Die Morde des Herrn ABC
keinen kalten Vorbedacht zu. Auch erfuhr ich, dass er seinen Urlaub Anfang August hatte, was praktisch ausschloss, dass er mit dem Mord in Churston irgendetwas zu tun hatte. Damit kommen wir zu diesem Mord in Churston, und sofort stehen wir auf ziemlich sicherem Grund.
Sir Carmichael Clarke war ein sehr reicher Mann. Wer erbt sein Geld? Seine Frau, die todkrank ist, und danach geht das ganze Vermögen an seinen Bruder – Franklin Clarke.»
Poirot drehte sich langsam um, bis er Franklin Clarke in die Augen sehen konnte.
«Und da war ich meiner Sache ganz sicher. Der Mensch, den ich nur aus meinen Vorstellungen kannte, und der Mann, der mir im Leben gegenübertrat, wurden eins. ABC und Franklin Clarke waren ein und dieselbe Person! Der kühne, abenteuerliche Charakter, die Reiselust, die Voreingenommenheit für England – all das hatte sich, wenn auch sehr undeutlich, bereits in den Briefen ausgedrückt, in seinem Hohn auf mich als Ausländer. Ein sicheres, elegantes Benehmen – nichts leichter für ihn, als einer kleinen Kellnerin den Kopf zu verdrehen. Methodischer, tabellarischer Verstand – dafür sprach die ordentliche Liste, die er kürzlich hier erstellte, als wir unsere Rollen für die Jagd nach ABC verteilten. Und schließlich: der knabenhafte Zug – den Lady Clarke mir gegenüber erwähnte und der auch durch seinen Geschmack in Bezug auf seine Lektüre belegt wird: Ich habe mich davon überzeugt, dass in seiner Bibliothek das Buch ‹The Railway Children› von E. Nesbit steht. Nun zweifelte ich nicht mehr daran, dass ABC, der Mann, der Briefe schrieb und Morde beging – Franklin Clarke war.»
Clarke begann plötzlich schallend zu lachen.
«Ausgezeichnet! Und was ist mit unserem Freund Cust, den man auf frischer Tat ertappt hat? Wie erklären Sie das Blut auf seinem Mantel? Und das Messer, das in seiner Wohnung gefunden wurde? Er mag freilich leugnen, diese Morde begangen zu haben…»
Poirot fiel ihm ins Wort.
«Sie irren sich! Er hat alles zugegeben.»
«Was?» Clarke sah ihn vollkommen verblüfft an.
«Gewiss», sagte Poirot freundlich. «Ich habe mit Cust gesprochen, und er hält sich selber für den Täter.»
«Und nicht einmal das vermochte Monsieur Poirot zu befriedigen?», fragte Clarke ironisch.
«Nein. Weil ich auf den ersten Blick erkannte, dass er gar nicht schuldig sein konnte! Er hat weder die Nerven noch den Mut, noch – das muss ich hinzufügen! – den Verstand, um derart kaltblütig zu planen! Ich habe diese Diskrepanz schon lange gespürt. Nun erkannte ich auch, worin sie bestand. Zwei Menschen waren in den Fall verwickelt: der wirkliche Mörder, ein kluger, selbstsicherer und verwegener Mann – und der Pseudomörder, nicht sehr intelligent, unsicher und ungemein beeinflussbar.
Beeinflussbar! In diesem einen Wort ist das ganze Geheimnis um Mr. Cust enthalten! Es genügte Ihnen nicht, Mr. Clarke, eine Reihe von Morden zu planen, um den einen, Ihnen wichtigen zu vertuschen. Sie brauchten darüber hinaus noch einen Sündenbock!
Ich vermute, dass Ihnen diese Idee zum ersten Mal kam, als Sie diesem merkwürdigen Menschen mit den bombastischen Taufnamen zufällig in einer Teestube der Stadt begegneten. Zu diesem Zeitpunkt dachten Sie unablässig darüber nach, wie Sie Ihren Bruder möglichst unauffällig umbringen könnten.»
«Tatsächlich? Und weshalb?»
«Weil Sie sich ernstlich Sorgen um Ihre Zukunft machten. Ich weiß nicht, ob Sie sich darüber klar waren, Mr. Clarke, wie sehr Sie mir in die Hände spielten, als Sie mir jenen Brief zeigten, den Ihr Bruder Ihnen geschrieben hatte. In jenem Schreiben machte er aus seiner Liebe und Zuneigung für Thora Grey kein Hehl. Seine Gefühle mögen rein väterlicher Natur gewesen sein – oder er kann sich das eingeredet haben. Jedenfalls bestand die Gefahr, dass er sich nach dem Tod seiner Frau diesem schönen Mädchen immer mehr zuwandte, bei ihr Trost und Mitgefühl suchte, und dass all das, wie so oft, damit endete, dass der ältere Mann diese junge Frau heiratete. Diese Befürchtung erhielt noch ein besonderes Gewicht durch Ihre ausgezeichnete Menschenkenntnis. Sie beurteilen die Menschen ziemlich gut, wenn auch sehr zynisch.
Sie setzten voraus – zu Recht oder zu Unrecht –, dass Thora Grey recht genau wusste, was sie wollte, und Sie zweifelten keinen Augenblick daran, dass sie die Möglichkeit, Lady Clarke zu werden, mit beiden Händen ergreifen würde. Ihr Bruder war ein sehr gesunder, starker Mann. Es hätten Kinder
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