Die Moselreise - Roman eines Kindes
war, dass mir all die kleinen Räume und Orte der Reise zum einen bekannt waren und dass ich sie andererseits nicht als reale Räume und Orte, sondern als Räume und Orte der gemeinsam mit dem Vater absolvierten Moselreise wahrnahm.
So bewegte ich mich während dieser zweiten Reise in die früheren Aufzeichnungsräume der Schrift zurück, und so reagierte ich auf diese Rückwärtsbewegung mit einem andauernden Blick darauf, was sich seit der früheren Reise in meinem Reiseverhalten verändert hatte.
Dabei bemerkte ich aber, dass es auf den ersten Blick gar nicht so viele Veränderungen gab, sondern dass die Ähnlichkeiten zwischen den beiden Reisen sogar überwogen. Manchmal ging ich zum Beispiel, auch ohne einen erneuten Blick in das Manuskript der Moselreise geworfen zu haben, instinktiv dieselben Wege, auf denen ich als Kind mit dem Vater unterwegs war. Ein anderes Mal orientierte ich mich, ohne mich zunächst daran zu erinnern, genau wie der Vater am Sonnenstand und an den Himmelsrichtungen. So erkannte ich von Tag zu Tag immer mehr, wie stark ich insgesamt noch von dem väterlichen Verhalten geprägt war. Ich bewegte und beobachtete nicht nur wie er, sondern ich war ihm auch in meinen Vorlieben und Eigenarten sehr ähnlich.
Mit der Zeit sammelte und notierte ich dann all die vielen Details, die mir fast täglich an Übereinstimmungen auffielen: Ich bestellte nicht nur wie mein Vater immer wieder Moselaal und Forelle, sondern ich trank auch wie er an den
Abenden immer wieder zwei oder drei Gläser Moselwein. Ich las nicht nur wie er die »Mosella« des Römers Ausonius, sondern ich schaute mir auch wie er in den kleinen Moselkirchen jedes Detail sehr genau an. Ich beschaffte mir nicht nur wie er an jedem Morgen die neuen Tageszeitungen, sondern ich las auch wie er in den Werken des großen Mannes aus Kues.
So wurden die Listen der Übereinstimmungen immer länger, während zugleich aber auch viele Aufzeichnungen entstanden, in denen ich mich mit meinem Vater nicht mehr im Tonfall des Kindes, sondern in dem eines an Kenntnissen und Erfahrungen beinahe ebenbürtigen Mannes unterhielt. So befragte ich also meinen Vater nach seinen Wahrnehmungen, Überlegungen und Empfindungen, und ich beantwortete meine Fragen im Tonfall meines Vaters, um gleichsam eine zweite, erweiterte Fassung der Moselreise zu schreiben:
Lektüre des Ausonius
Ich: Hat Dich die »Mosella« des Ausonius nicht manchmal auch etwas gelangweilt?
Vater: Nein, richtig gelangweilt hat sie mich nicht. Aber ich weiß, worauf Du anspielst. Die »Mosella« ist an vielen Stellen etwas pedantisch und faktisch. Dafür gibt es aber auch andere Stellen, die beinahe bewundernswert enthusiastisch sind.
Ich: Du meinst die Stellen, in denen Ausonius die Mosel und den Moselraum preist und lobt?
Vater: Ja, ich meine genau diese hymnischen Stellen. Die gefallen mir sehr, und als ich sie gelesen habe, habe ich gedacht: Wie seltsam, dass es diesem alten Römer gelungen ist, an der Mosel derart glücklich zu sein! Alles stimmt für ihn zusammen: Der Fluss, seine Farben, die Weinberge, die römischen
Villen mit Blick auf den Fluss, das stille und ruhige Leben der Winzer und Landarbeiter - das alles ergibt für ihn ein Tableau, das es heutzutage in dieser Stimmigkeit kaum noch gibt. Aber wir ahnen es, nicht wahr? Wir erahnen es, indem wir Ausonius lesen und uns an der Mosel so wie er entlang bewegen.
5
Die Wiederholung der Moselreise in den späten achtziger Jahren entpuppte sich schließlich als der Versuch, die schweigsame und belastende Präsenz des gestorbenen Vaters in ein Gespräch mit diesem Vater zu überführen. Die Themen dieses Gespräches waren durch die Wanderung entlang der Mosel und meine erste Reiseerzählung vorgegeben. Weil ich in dieser Erzählung so genau und geduldig von all unseren gemeinsamen Unternehmungen berichtet hatte, konnte ich während der zweiten Reise unsere Themen und Gespräche gleichsam reaktivieren. So konnte ich überprüfen, wer ich nun war und wie ich nun dachte, indem ich mich an die Überlegungen und Empfindungen des Vaters anlehnte. Gleichzeitig erhielt ich ihn aber auch weiter am Leben, indem er für mich zu einer durchaus noch gegenwärtigen Figur wurde, die mein Reiseverhalten noch immer bis ins kleinste Detail bestimmte.
Ich hütete mich daher davor, von unserer gemeinsamen Reiseroute abzuweichen, ja ich hielt mich so genau und beinahe penetrant an alle Vorgaben, dass ich die Strecke, die wir mit einem Schiff
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