Die Muse des Mörders (German Edition)
unternehmen.«
»Ich weiß nicht, Madeleine. Woher weißt du, dass er die Wahrheit sagt?«
Marie betrat die Diele und wollte ihren Weg in die Küche fortsetzen, doch dann hörte sie Olivers Namen und blieb wie elektrisiert stehen.
»… schon herausfinden.«
»Er hat dir nicht einmal verraten, ob er den Goldschmied umgebracht hat.«
Madeleine sagte, dass sie Oliver diese Tat auch nicht zutraute. Unwillkürlich hielt Marie sich den schmerzenden Bauch und lauschte weiter.
»Es ging ihm sehr schlecht, Lucy. Wer weiß, wie lange er die Behandlung da drin durchhält.«
»Die Behandlung? Was meinst du damit?«
»Als ich heute bei ihm war, war er verletzt. Ich konnte nur die Wunden im Gesicht sehen, aber ich bin mir sicher, dass das nicht alles war. Für mich sah es so aus, als wäre er gefoltert worden.«
Maries Leib zog sich vor Entsetzen schmerzhaft zusammen. Das durfte nicht wahr sein. Bilder schossen durch ihren Kopf, wie schwere Polizeistiefel auf ihren Freund eintraten. Auf diesen Bildern war er genauso hilflos wie ihr Vater vorletzte Nacht. Am Boden. Am Ende. Sie wollte nichts mehr hören, kein einziges Wort mehr. Sie presste die Hände fester auf ihren Bauch und rannte die Treppe hinauf.
77.
>Madeleine lag im Bett und versuchte, Olivers flehenden Blick und alles, was sie heute erfahren hatte, für ein paar Stunden aus ihrem Kopf zu verbannen, um Ruhe zu finden. Das Fenster war geschlossen, doch aus der Bar unten auf dem Platz drangen vereinzelte Geräusche zu ihr herauf. Es war ungewöhnlich, dass sie sich so früh ins Bett legte, doch besondere Zeiten erforderten besondere Maßnahmen. Sie lauschte auf das Klappern von Besteck und auf die Musik, die so verzerrt hier oben ankam, dass sich nicht einmal der Stil erahnen ließ.
Für eine Weile lullten die undeutlichen Klänge sie ein, ihr fielen die Augen zu und ihre Wahrnehmung zog sich zurück, um dem wohlverdienten Schlaf Platz zu machen, dann hörte sie das Kratzen. Kreischend und hoch drang es ihr durch Mark und Bein. Sie erstarrte. Lauschte auf ihre eigenen erschrockenen Atemzüge. Vielleicht hatte sie es sich eingebildet. Vielleicht hatte da unten einfach tatsächlich jemand mit seiner Gabel über den Teller gescharrt, ein Erwachsener aus Versehen oder ein Kind mit Absicht.
Nein. Sie wusste, dass das Unsinn war. Das Geräusch war viel zu laut gewesen. In diesem Moment ertönte es wieder. Madeleine setzte sich im Bett auf. Sie erkannte die Silhouetten ihrer Möbel, das fahle Rechteck des Fensters, ihren hageren Umriss in der verspiegelten Schranktür. Alles war wie immer in ihrem Schlafzimmer, alles hatte seine Richtigkeit und doch wusste sie, dass etwas nicht stimmte. Sie hatte diese Situation schon dutzende Male erlebt. Das Zimmer hatte sich mit den zahlreichen Umzügen in ihrem Leben verändert, doch das unheimliche Kratzen und Scharren war überall gleich gewesen. Im Haus ihrer Eltern draußen am Rand von Währing, im Haus ihres Onkels in der Schweiz, bei dem Georg und sie als Waisen aufgewachsen waren, in ihrer ersten eigenen Wohnung. Immer und immer wieder hatte sie sich über die Quelle des Geräusches gewundert, doch diesmal war etwas anders. Ihr Bewusstsein war ihr in den Schlaf gefolgt und half ihrem Unterbewusstsein zu verstehen, was geschah. Sie träumte. Sie träumte immer und immer wieder das gleiche Symbol, ihr ganzes Leben lang, ohne je verstanden zu haben, was ihr das dringliche Scharren und Schaben vor ihrem Schlafzimmer sagen wollte. Nur eines hatte sie mittlerweile verstanden. Ausnahmslos jedes Mal kündigte der Traum ein herannahendes Unglück an. Auch wenn sie nicht wusste, welches Unglück sie jetzt noch ereilen konnte, war ihr doch klar, dass sie nichts an seinem Eintreten ändern konnte, wenn sie nicht aufwachte.
Ein neuerliches Kratzen ließ sie zusammenfahren, doch wenn sie sich vor Augen hielt, dass es nicht real war, sondern nur eine Vision, die ihr erschütterter Geist produzierte, verlor es gleich seinen Schrecken. Ihr Verstand kämpfte mit allen Mitteln gegen den hilflosen Zustand des Schlafens. Zuerst konnte sie sich nicht rühren, ihr Körper fühlte sich bleiern und schwer an, aber dann schaffte sie es, einen Arm zu bewegen, und war schlagartig hellwach.
Sie setzte sich auf, das Schlafzimmer glich dem Zimmer ihres Traumes, doch die gespenstische Atmosphäre fehlte, genau wie das unangenehme Geräusch vom Fenster her. Dafür hörte sie etwas anderes, nicht weniger Erschreckendes. Schnell, wenn
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