Die Muse des Mörders (German Edition)
getraut, mich zu rühren und unter dem Bett nachzusehen. Als mein Vater gemerkt hat, wie schlecht es mir ging …« Ihr Blick wanderte wieder zur Decke und mit den Händen zwirbelte sie an einer Strähne ihres langen Haares herum. »… da kam er zu mir ins Zimmer und hat mich an die Hand genommen und mit mir zusammen unter dem Bett nachgesehen und im Schrank. Er hat überall im Haus das Licht gelöscht und ist mit mir von Zimmer zu Zimmer gelaufen und wir haben überall nach dem Monster gesucht, aber da war nirgendwo eines. Am Ende saßen wir in der Küche, er hat mir einen Kakao gemacht und sich zu mir gesetzt. Hast du jetzt noch Angst, Marie, hat er gefragt. Ich habe ganz stolz den Kopf geschüttelt.« Marie sah Madeleine an und wiederholte abermals die Worte des Goldschmieds. »Gut, denn je mehr Angst du hast, desto mächtiger wird das Monster. Wenn du gar keine Angst hast, dann sieht das Monster, dass du stark bist, und lässt dich in Ruhe.« Bei den letzten Worten brach Maries Stimme und sie hielt sich die Hände vors Gesicht.
»Ist schon gut.« Madeleine legte ihr eine Hand auf den Arm und versuchte, sie zu beruhigen. Ihr war eiskalt. Sie musste an Olivers Bitte denken. Was am vorigen Nachmittag nur wie die Worte eines hoffnungslos Verliebten gewirkt hatte, der seine Freundin um jeden Preis schützen wollte, war nach Maries Schilderung zu einer Tatsache geworden. René Kardos mochte verrückt, skrupellos und besessen von seinen Begierden gewesen sein, aber er war seiner Tochter ein guter Vater gewesen. An dieses Bild von ihm klammerte sie sich mit unermüdlicher Verzweiflung. Madeleines Blick wanderte zu Maries noch flachem Bauch. Die Wahrheit zu erfahren, würde nicht nur sie zugrunde richten. Für ein paar Minuten herrschte Stille. Madeleine glaubte, dass Marie erschöpft eingeschlafen war, doch dann bewegte sich das Mädchen.
»Sie haben heute mit Oliver gesprochen.« Marie sah Madeleine aus geröteten Augen an. »Ich habe Ihr Gespräch mit Lucy belauscht. Ich habe gehört, dass er im Knast verprügelt wurde.«
Madeleine nickte. Leugnen war zwecklos und würde Marie nur zusätzlich verletzen. Sie überlegte kurz, doch dann entschied sie, dass sie der Schwangeren von ihrer Verbindung zu Oliver erzählen konnte. Über kurz oder lang würde sie sowieso davon erfahren. Alles andere verschwieg sie und Marie hakte nicht weiter nach. Obwohl Madeleine ihr vergangene Nacht schon von Olivers ominösen Drohungen gegen sie berichtet hatte, wollte das Mädchen offenbar gar nicht mehr wissen. Stattdessen leuchtete Hoffnung in ihren Augen auf.
»Dann müssen Sie ihm erst recht helfen, dann wissen Sie doch so gut wie ich, dass er nicht dieser Mörder ist.«
Madeleine rang sich ein Lächeln ab. Sie wollte an Olivers Unschuld glauben, doch es stand noch eine große, unbekannte Variable in der Gleichung. Wenn René Kardos der Dolchstoßmörder gewesen war, wer hatte dann ihm den Dolch ins Herz gestoßen?
»Ich werde für ihn tun, was ich kann, Marie. Jetzt versuch zu schlafen. Du brauchst Ruhe.«
Marie blickte Madeleine bange an.
»Versprechen Sie es!«
»Ich verspreche es.«
Das erschöpfte Mädchen schloss die Augen und fiel nach ein paar Minuten in einen unruhigen Schlaf.
79.
Es war ihr nicht leicht gefallen, Marie allein zu lassen, doch sie hatte gespürt, dass sie noch ein paar Stunden Ruhe brauchte. Lucy hatte sich bereiterklärt, bei dem Mädchen zu bleiben. Bisher hatte sie sich nicht gemeldet, was bedeutete, dass das ungeborene Kind in Maries Bauch nicht gestorben war, aber auch noch nicht gerettet.
Nachdem Madeleine aufgestanden war, hatte sie lange überlegt, ob sie die Idee, die ihr auf dem Heimweg gekommen war, in die Tat umsetzen sollte. Ihr war nicht ganz wohl bei dem Gedanken und doch fiel ihr keine andere Lösung ein. Sie musste wissen, ob Oliver die Wahrheit gesagt hatte. Es ließ sich also nicht vermeiden, in René Kardos’ Vergangenheit zu forschen. Wenn sie irgendwo Anzeichen für den Wahnsinn finden konnte, den Oliver beschrieben hatte, dann wahrscheinlich dort.
Sie stand in dem Durchgang zwischen dem vordersten Platz des Raimundhofes und der dahinterliegenden Einkaufspassage und blickte auf die Tür der Werkstatt. Die gelben Schildchen waren entfernt und die Blutspuren beseitigt worden. Da der Goldschmied nicht hier getötet worden war, hatte es für die Spurensicherung anscheinend nicht allzu viel zu tun gegeben. Auch ohne Anzeichen von Polizeiarbeit wirkte dieser Ort
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