Die Muse des Mörders (German Edition)
der Jacke helfen und betrat das Wohnzimmer. Sie fühlte sich erschöpft und als sie sich in einen der Clubsessel setzte, hätte sie auf der Stelle einschlafen können. Nur die Gefühle, die während der letzten Stunden in ihr geweckt und durcheinandergebracht worden waren, hielten sie wach.
Ihr Gespräch mit Oliver, an den sie seit Jahren nicht mehr gedacht hatte, hatte einige ihrer Fragen beantwortet und andere aufgeworfen. Seine lebhafte Schilderung hatte eine selten erlebte Bestürzung in ihr geweckt. Lucy hantierte in der Küche und kam dann mit zwei Tassen schwarzem Tee zurück. Mit Rum, wie der Geruch verriet. Madeleine lächelte bemüht und nahm ihr eine der Tassen ab.
»Wie geht es Marie?«
»Die meiste Zeit liegt sie im Bett. Zwischendurch hat sie ein wenig ferngesehen, aber als die Nachrichten kamen, habe ich sie abgelenkt. Eine Freundin von ihr hat angerufen und sich nach ihr erkundigt, aber Marie wollte mit niemandem reden. Sonst war alles ruhig.«
Einerseits war Madeleine froh darüber, denn es bedeutete, dass die Presse keinen Wind von ihrem Treffen mit Oliver bekommen hatte. Andererseits erschütterte es sie, dass es tatsächlich keine weiteren Angehörigen gab, die sich für Marie interessierten.
»Jetzt sag schon. Was wollte der Verrückte von dir?«
Madeleine nahm ebenfalls einen Schluck von dem bitteren Tee, dann stellte sie die Tasse auf dem Tischchen ab.
»Ach, Lucy. Wenn er nur irgendein Verrückter wäre …«
»Ich glaube, ich verstehe nicht ganz.«
Madeleine starrte auf den Dampf, der sich über der Tasse kräuselte, als verberge sich irgendwo darin der richtige Ansatzpunkt für ihre Erzählung. Sie war des Erzählens müde, sie war müde von Gesprächen und von den neuen, nervenaufreibenden Konsequenzen, die sich momentan aus allem, was sie tat, ergaben. Sie war aber nun einmal Teil dieser Geschichte, genau wie Lucy, die sie aus großen Augen ansah und sich ungeduldig den schwarzen Pony aus der Stirn blies. Madeleine beschloss, dass es nötig war, weit auszuholen.
»Ich habe dir doch einmal von Anne erzählt …«
76.
Noch nie in ihrem Leben hatte Marie solches Heimweh gehabt. Sie lag auf dem harten Feldbett im Haus der fremden Frau und der Wunsch, einfach nach Hause zu gehen, wurde von Sekunde zu Sekunde unerträglicher. Es gab nur ein Problem. Das, was für sie zu Hause gewesen war, gab es nicht mehr. Sie glaubte, den Verstand zu verlieren. Sie hoffte es regelrecht.
Schluchzend drückte sie Olivers Pullover enger an sich, aber das leblose Stück Stoff konnte sie nicht trösten. Gar nichts konnte sie trösten und wenn sie hier liegen blieb und es nicht schaffte, ihre Gedanken abzuschalten, dann würde sie niemals aufhören können zu weinen, das wusste sie. Marie richtete sich auf und lauschte auf die Geräusche im Haus. Sie war verzweifelt auf der Suche nach irgendetwas, das ihr zeigte, dass alles nur ein böser Traum gewesen war. Olivers Schritte auf der Treppe, die Tür, sein Lachen. Das vertraute Hämmern aus der Werkstatt. Doch da war nichts, nur die leisen Stimmen von zwei Frauen. Sie war so allein, wie noch nie jemand allein gewesen war.
Marie stand auf, weil ihr das Liegen auch nicht half. Seltsamerweise war sie hungrig, auch wenn sie in den letzten sechsunddreißig Stunden felsenfest davon überzeugt gewesen war, dass sie nie wieder irgendetwas essen können würde. Der Schwangerschaftstest fiel ihr ein und sie musste sich am Türrahmen abstützen, damit ihr nicht die Beine wegsackten. Ein drückender Schmerz presste ihre Eingeweide zusammen, als sie sich daran erinnerte, wie sie sich Sorgen gemacht hatte. Was würde Oliver zu ihrer Schwangerschaft sagen? Was würde ihr Vater dazu sagen? Sie kam sich unendlich albern vor für die kitschigen Bilder, die sie sich ausgemalt hatte. In ihren Träumen war alles so friedlich gewesen. In der echten Welt gab es nichts mehr, das friedlich war.
Marie verließ das Zimmer und zog den Pullover über, während sie, so leise sie konnte, zur Treppe ging. Sie wollte nicht, dass die Frauen sie hörten, wollte nicht, dass jemand sie ansprach oder sie schon wieder fragte, wie es ihr ging. Sie wollte sich nur schnell etwas aus dem Kühlschrank holen und sich dann wieder hier oben verkriechen. Leise ging sie nach unten und die Stimmen wurden lauter. Zuerst hastig und ungestüm die der Haushälterin, dann langsamer und bedachter die alte Schriftstellerin.
»Wir müssen so schnell wie möglich etwas
Weitere Kostenlose Bücher