Die Muse des Mörders (German Edition)
auch noch schlaftrunken, drehte sie den Kopf zur Tür.
Ein gequältes Weinen drang durch das dicke Holz. Auf seine Art war dieser Laut Millionen Mal schlimmer als der aus ihrem Traum und er war real. Das Jammern und Klagen schwoll zu einem Schmerzensschrei an, der Madeleine vor Schreck zusammenfahren ließ. Sie befreite sich von der Bettdecke, stand auf und schüttelte den letzten Rest von Schläfrigkeit ab, während sie sich beeilte, zur Tür zu kommen. Im Flur fand sie die Quelle der Schmerzenslaute. Marie Kardos lag auf dem Boden zwischen Arbeitszimmer und Bad, hinter sich eine Spur aus Blutstropfen. Sie krümmte sich und hielt ihren Bauch umklammert. Madeleine rief nach Lucy und machte das Licht an, dann kniete sie neben Marie nieder.
»Marie? Was ist mit dir? Kannst du mich hören?«
»Es verlässt mich auch noch …«, flüsterte Marie. »Es lässt mich auch allein.«
Madeleines Blick fiel auf die kleine Lache aus wässrigem Blut, die sich unter dem Mädchen gesammelt hatte, und verstand. Lucys Tür flog auf und sie stand im Flur.
»Ruf einen Arzt!« Madeleine schickte zum ersten Mal seit unzähligen Jahren ein Gebet in den Himmel. Sie betete, dass Gott oder wer auch immer da oben die Dinge lenkte, Erbarmen mit dem Mädchen haben möge.
78.
Es war mitten in der Nacht, als der Gynäkologe der Klinik Marie endlich untersuchte. Er wirkte nicht gerade erfreut, dass seine Bettruhe gestört worden war. Als er bemerkte, in welchem Zustand das Mädchen war, riss er sich jedoch sichtlich zusammen.
Auf Maries Wunsch hin blieb Madeleine während der Untersuchung bei ihr und hielt ihre kalte Hand. Ihre Besorgnis siegte schnell über das Unbehagen, an einer so intimen Situation teilzunehmen. Die Schwangere weinte die ganze Zeit über und Madeleine tupfte ihr immer wieder mit einem Taschentuch das Gesicht ab. Nach dem Ultraschall lächelte der grauhaarige Arzt Marie aufmunternd an und bat Madeleine, kurz mit ihm auf den Flur zu kommen.
»Sind Sie eine Verwandte der jungen Frau?«
»Sie hat keine Verwandten.« Madeleine hoffte, dass sie nicht ins Detail gehen musste, und der Arzt war glücklicherweise nicht in Verhörlaune. Er blickte zur Tür des Behandlungsraumes, dann senkte er die Stimme.
»Sie hat eine beträchtliche Menge Fruchtwasser verloren. Der Embryo lebt noch, aber ich kann nicht sagen, ob das so bleiben wird.«
»Können Sie denn gar nichts tun?«
Der Mediziner schüttelte bedauernd den Kopf.
»Eine beschädigte Fruchtblase kann man nicht behandeln. Wir können nur hoffen, dass der Riss sich von selbst schließt. Dafür braucht die Patientin in erster Linie Ruhe.« Er erklärte ihr, dass er Marie über Nacht in der Klinik behalten wollte. Falls das Kind abgehen würde, so würde er gleich am nächsten Morgen eine Ausschabung vornehmen können.
Marie wurde auf Madeleines Wunsch hin in ein Einzelzimmer gebracht. In dem großen weißen Bett und dem anonymen Krankenhaushemd wirkte sie noch viel verlorener.
Nachdem die Nachtschwester ihren Blutdruck kontrolliert hatte und gegangen war, zog Madeleine sich einen Stuhl heran und setzte sich zu Marie. Wieder hatte sie das Gefühl, sich vielleicht überschätzt zu haben.
»Ich habe solche Angst«, flüsterte Marie und Madeleine wünschte sich, dass ihr irgendetwas einfiel, mit dem sie das Mädchen beruhigen konnte. Sie war einfach zu ungeübt in solchen Dingen.
»Du darfst jetzt nicht aufgeben«, sagte sie. »Je mehr Angst du hast, desto mehr regst du dich auf und desto ungesünder ist es für dein Baby.«
»Je mehr Angst du hast, desto mächtiger wird das Monster«, flüsterte Marie und ihre Augen füllten sich wieder mit Tränen. Sie wischte sie fort und versuchte ein Lächeln, das zur Grimasse geriet.
Madeleine blickte sie an.
»Als ich noch klein war …« Marie zog die Nase hoch und schaute an die Decke oder vielleicht auch in eine ferne Vergangenheit. »Nachdem meine Mutter uns verlassen hat …«
Madeleine sah auf. Sie hatte sich noch gar keine Gedanken darüber gemacht, was mit Maries Mutter geschehen war. Bisher war sie einfach davon ausgegangen, dass das Mädchen eine Halbwaise war.
»… da war ich fest überzeugt, dass ein Monster sie geholt hatte. Sie verschwand nachts und ich glaubte, dass es unter dem Bett hervor oder aus dem Schrank gekommen war und sie aufgefressen hatte.« Marie lachte kläglich. »Ich hatte Angst, dass es mich auch holt. Nacht für Nacht habe ich geweint und geweint und mich nicht
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