Die myrrhischen drei Könige: Roman (German Edition)
massivem Gold bestanden. Kurzzeitig hatte Balthasar mit dem Gedanken gespielt, sich einen Arm abzuhacken, um eine ähnliche Menge Ballast abzuwerfen. Doch langfristig waren die Aussichten eines einarmigen Plünderers eher beschränkt.
»Schneller!«, rief er wieder, als würde dieses Wort das Kamel mehr anspornen als die tausend heftigen Tritte, mit denen er dessen Flanken traktiert hatte. Es wurde immer langsamer, und erneut sah Baltasar sich gezwungen, das Undenkbare in Erwägung zu ziehen: wieder etwas von seinem sauer verdienten Schatz über Bord zu werfen.
Er griff in eine der gewaltigen Satteltaschen und kramte darin herum, bis seine Hände etwas ertasteten, das sich schwer anfühlte. Beinahe hätte er es nicht über sich gebracht hinzusehen, als er das Stück ans Tageslicht zog. Da, in seiner Hand, befand sich ein Trinkbecher aus massivem Silber – beinahe so groß wie eine Schüssel. Kunstvoll verziert und mit Edelsteinen besetzt. Es war ein atemberaubendes Meisterwerk, mit höchster Kunstfertigkeit aus den besten Materialien hergestellt. Außerdem war es unglaublich schwer. Balthasar hielt den Kelch seitlich von sich gestreckt. Dann ließ er ihn aus den Fingern gleiten, den Blick abgewandt und mit einem flauen Gefühl im Magen. Er drehte sich weg, um sich den Anblick zu ersparen, wie der Kelch über den Wüstenboden rollte, und versetzte seinem Kamel als Vergeltungsmaßnahme noch einen raschen Tritt.
Komm schon, Dummkopf … nur noch ein bisschen länger …
Es konnte nicht durstig sein. Ein Kamel konnte auf einen Schlag vierzig Gallonen trinken, und sein Körper speicherte dieses Wasser wochenlang. Seine Pisse war ein dickflüssiger Sirup aus reinen Ausscheidungsprodukten. Seine Scheiße war so trocken, dass man sie als Feuerholz hernehmen konnte, Himmelherrgott noch mal! Nein … es war nicht durstig. Auf keinen Fall. Erschöpft? Unwahrscheinlich. Kamele konnten fünfzig Jahre oder älter werden. Und obwohl Balthasar nur einen kurzen Blick auf das Gesicht dieses besonderen Tieres hatte werfen können, während er es einem sehr aufgebrachten Beduinen stahl, tippte er darauf, dass es nicht viel älter als fünfzehn Jahre war. Höchstens zwanzig. Immer noch in der Blüte seines erbärmlichen Lebens.
Nur noch ein bisschen länger, du Miststück …
Nein, dieses Kamel war bloß stur. Und Sturheit ließ sich mithilfe von ein oder zwei festen Tritten kurieren. Balthasar war überzeugt, dass das Tier noch eine Stunde lang auf Höchstgeschwindigkeit galoppieren konnte. Vielleicht zwei. Und wenn diese Einschätzung sich bewahrheitete – wenn sich dieses Kamel dazu überreden ließ, seine Sturheit aufzugeben –, dann hatte er eine echte Chance, Jerusalem zu erreichen. Und wenn er Jerusalem erreichte, hätte er es geschafft. Dort würde er sich unter die Menschenmassen mischen, die dank der Volkszählung zweifellos die Straßen verstopften. Er würde verschwinden. Sein Diebesgut eintauschen gegen Münzen, Kleidung, Nahrung – und ganz bestimmt ein neues Kamel.
Balthasar mochte ein Dieb sein, doch er hatte etwas gegen Risiken. Risiken kosteten Menschen das Leben. Risiken waren unnötig. Wenn ein Mann vorbereitet war, wenn er die Kontrolle behielt, liefen die Dinge gewöhnlich nach Plan. Doch sobald er etwas dem Zufall überließ? Sobald er auf Partner oder seinen Instinkt oder sein Glück vertraute? Dann ging alles zum Teufel. Deshalb wurde er gerade auf einem stinkenden, unmotivierten Tier von einer riesigen Wolke quer durch die Wüste gejagt. Weil er ein Risiko eingegangen war. Weil er die unverzeihliche Sünde begangen hatte, seinen Instinkten zu vertrauen.
Sosehr es ihn auch verdross, sosehr es seinem Wesen zuwiderlief, musste Balthasar doch akzeptieren, dass der Ausgang seiner derzeitigen Zwangslage außerhalb seiner Kontrolle lag. Er konnte so viel treten und fluchen, wie er wollte …
Jetzt hing alles von dem Kamel ab.
Es hatte alles so perfekt gewirkt. Sämtliche Anreize waren vorhanden gewesen: ein nicht allzu gut bewachter Vorrat an Kostbarkeiten, ein korrupter Adeliger, eine Bevölkerung, die von den Römern ausgebeutet wurde. Einen direkteren Weg in Balthasars Herz hätte nicht einmal ein Kartograf auf einer Karte einzeichnen können.
Die geografische Lage war ein weiterer Pluspunkt gewesen. Die Stadt Tel Arad lag gut fünfzig Meilen südlich von Jerusalem. Und je weiter man sich von Jerusalem entfernte, desto unwahrscheinlicher war es, Truppen zu begegnen, seien es nun die judäische Armee
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