Die Nacht der Haendler
an, eilte ans Kopfende und verlangte mit schneidender Anklägerstimme, das Verfahren gegen Stieftaal zu eröffnen – wegen »Verrats an der Bewegung, Verschwörung wider den Antimagismus, gegen die Person des Antimago und Konspiration mit den Ausbeutern der Realität! – Ich rufe den Beschuldigten!« Langsam schob Stieftaal die Tür auf. Die Kapuze seiner Wollkutte hatte er weit nach vorn gezogen, so dass sein Gesicht kaum zu sehen war. Die Mühe seiner Schritte, die hinfällige Haltung, in der sein großer Körper sich zu dem einzelnen Stuhl an der dem Gericht gegenüberliegenden Längsseite des Tisches schleppte, ließen erkennen, dass er sich aufgegeben hatte. Er setzte sich, faltete die Hände und ließ den Kopf auf die Brust sinken. »Will sich der Angeklagte zu den Anschuldigungen äußern?« fragte Lucia Vonghi, die offenbar als zweite Richterin fungierte. Stieftaal schwieg. »Wollen sich die beisitzenden Schöffen äußern?« Adolf und Jossif schüttelten in paralleler Bewegung die Köpfe. Sie bemühten sich um einen würdigen Gesichtsausdruck, wirkten aber hölzern und unsicher. »Schweigen also will er!« schrie Reeper. »Aber wer denn schweigt in einer solchen Lage und vor so ungeheuerlichen Vorwürfen? Es schweigt doch nur der, der fürchten muss, sich durch Reden zu verraten, in Widersprüche zu verwickeln, ungewollt Geständnisse seines Unbewussten auszuplaudern! Wer nichts zu verbergen hat, muss nicht schweigen! Ja, er könnte seinem guten Gewissen alle Worte der Welt leihen! Was also schließen wir aus diesem Schweigen?« Unter den Zuschauern sprang Anna vom Stuhl auf, richtete ihren, bis in den Zeigefinger gestreckten Arm auf den krummen Rücken Stieftaals und keifte mit einer mir fremden Stimme: »Er hat die Idee verraten! Er hat dich verraten! Ich habe ihm geholfen all die Jahre, ich habe an ihn geglaubt all die Jahre, ich war für ihn da all die Jahre! Ich habe es mir nicht leicht gemacht! Ich habe ihn ausgehalten, seinen Gestank, seinen Dreck, seine Besäufnisse! Ich habe dies alles ausgehalten, weil ich glaubte, dass er ein treuer Freund des Großen Antimago, meines geliebten Vaters ist! Aber jetzt weiß ich, er will uns vernichten, er ist ein Renegat. Und darum müssen wir ihn vernichten!« Sie blickte in die Runde. Stolz, als habe sie gerade eine Heldentat vollbracht, aber mit sonderbar verzerrtem Gesicht versicherte sie sich des Einverständnisses der übrigen und glitt langsam zurück auf ihren Stuhl. Ich fing Dschejdschejs entsetzten Blick auf und versuchte ihm zu bedeuten, dass dies nicht die Anna war, die ich kannte, dass Anna ausgetauscht war gegen eine mir unheimliche, fremde Frau, die Reeper gefiel und gefallen wollte. »Danke, mein Kind«, sagte der und nickte ihr gütig zu. »Wenn schon das eigene Fleisch und Blut gegen den Erzeuger aufstehen muss«, rief er in die Runde, »wenn dieser dann immer noch schweigt, dann werden wir ihm sagen müssen, wessen er sich schuldig gemacht hat! Wir werden gerecht sein! Gerechter als er , denn er hat uns nicht gefragt, was wir zu unserer Verteidigung vorzubringen hätten, bevor er uns verurteilte mit seinem Verrat! Wir werden all das Gute nicht vergessen, das er uns getan hat, obwohl er alles vergaß, was wir ihm Gutes getan haben! Wir werden aufwiegen , wo er verworfen hat! – Zum letzten Mal frage ich dich, Hans Stieftaal, Warum hast du mich verraten? Warum hast du die Jahre des gemeinsamen Kampfes vergessen? Warum das Glück der Menschheit? Warum hast du die Gnade vergessen, die ich dir erwies, als du mein Allerwirklichstes zu hüten erwählt wurdest? Warum, Hans, jetzt – kurz vor dem Sieg? Du warst nie ein großer Redner. Wir alle wissen das. Aber du warst der Treuesten einer, als es im Kampf gegen die finsteren Mächte der Welt noch nicht so gut um uns stand wie heute! Du warst nicht bestechlich! Du hast im Gefängnis gelitten! Und du wusstest wofür! Für die Idee, die deine so gut war wie meine ! Und für mich, Hans, der dich herausgehoben hat aus deinem mittelmäßigen Leben in die Höhe der Geschichte!
Ein Mörder? Ja, das war unser Hans, ein Mörder! Und wir waren stolz darauf, dass er es war! Denn er wusste besser als wir, dass ein paar Menschenleben nicht zählen, ja nicht zählen dürfen , wenn es um die Größe des historischen Augenblicks und um das Glück der Menschheit geht! Er wusste, dass wir denken und denken können und immerfort denken
– dass aber am Ende nur eines zählt, und das ist die Tat . Die große, die
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