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Die Nacht der Haendler

Die Nacht der Haendler

Titel: Die Nacht der Haendler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gert Heidenreich
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Jossif Wissarionowitsch Stalin erkannt hatte, rauschte in seinem purpurnen Kardinalsmantel Boris Reeper, selig lächelnd, auf Anna und mich zu, bot mir seine Hand zum Kuss – blau schimmerte der Stein des Ringes auf dem roten Seidenhandschuh – und ergriff, da ich mich nicht eilig genug beugte, die meine und wandte sich der Gesellschaft zu. »Hört, Vereinigte des Hohen Tribunals! Mit unendlicher Freude darf ich euch einen neuen Gesinnungsbruder vorstellen, mehr noch, den Geliebten meiner Tochter, meinen liebwerten Sohn, Heinrich Günz, aus Kalifornien zu uns gestoßen, um uns zu bereichern! Ja, auch er ein Überzeugter nun, der als Ungläubiger gekommen war – nehmt ihn auf in unserer Mitte!« Sogleich schwoll einhellig der Chor an mit dem Ruf »Réalité! Vérité! Félicité!« gefolgt von Applaus, und ich sah mich von käsigen Gesichtern umringt, fahl leuchtenden Händen betastet, umarmt, geküsst von Damen in raschelnden Kostümen, würdige Herren in Bratenrock oder Lederwams, Sansculotten und Musketiere schlugen mir anerkennend auf die Schultern, drückten mir markig die Hand, Namen flogen an mir vorbei, erstickender Puderduft wölkte mich ein, säuerlicher Mundgeruch und Wellen schwerer Lotosessenzen wechselten, die Münder waren kalt, die Hände hart. Anna stand glücklich neben mir wie eine Braut. Als das Defilee vorüber war, führte Reeper mir zwei Damen zu, die sich im Hintergrund gehalten hatten. In der einen erkannte ich jene Puppe in russischgrünem Kleid wieder, die seinerzeit auf der Gästetoilette ihr Lippenrot erneuert und mich durch ihre wenngleich steife und tote Anwesenheit beinahe gehindert hatte, das WC zu benutzen. Auch jetzt trug sie jenes feuerrote Hütchen aus Federn, das ihr schon als Puppe etwas Aufreizendes verliehen hatte. Belebt, strahlte ihr Gesicht unübersehbar die Bereitschaft aus, jederzeit, und wenn es sein musste, hier auf der Stelle mit mir zu schlafen. Ihr Blick entkleidete mich und entblößte sie selbst. Reeper legte ihre Hand in meine. »Ich darf dir nun, lieber Heinrich, meine Gattin vorstellen, Annas Mutter Elisabeth, die treue Gefährtin meines Lebens!« Bevor ich mich verneigen konnte, lachte die treue Gefährtin: »Man kennt sich, nicht wahr? Ich fand ganz reizend, dass Sie in meiner Anwesenheit Ihr Wasser abgeschlagen haben, Ihre Entschuldigung nachher war überflüssig! Immerhin wurde ich im Spiegel genital mit Ihnen vertraut …« Ich wurde rot. Da sie ihre Hand zurückzog, sah ich, dass sie im anderen Arm ein junges Krokodil gleich einem Säugling vor ihrer Brust trug. Aus dem senkrechten Schlitz seines Auges starrte es mich feindselig an. Ich wollte mich erkundigen, ob die kleine Echse ein Souvenir von jener Reise in den Tod war, die Reeper mir geschildert hatte, als er seine Frau zurückzog und mir die zweite seiner Damen herschob, eine füllige Gestalt in weißem Leinenkostüm. Die weichen Züge ihres Gesichts schienen unter einem weit ausladenden schwarzen Hut zu zerlaufen, dessen Fransenkrempe vor die Stirn fiel wie eine Reihe großer Wimpern. Ihre Hand war unerwartet grob, ihr Druck kräftig.
    »Hier siehst du«, sagte Reeper leise und voller Ehrfurcht, »die größte Bildhauerin unserer Epoche, die Gestalterin meiner Büsten, Lucia Vonghi – ein Weib, in dem man für immer versinken möchte.« Sie blieb stumm, starrte mich an, als ob sie meinen Kopf für ein Porträt prüfte, und Reeper klatschte in die Hände. »Nun aber wollen wir fressen!« Im gleißend hellen Speisesaal rannten die dienenden Diktatoren mit Platten und Schüsseln und Flaschen hinter den langen Reihen der Gäste auf und ab, trugen die Speisen her, servierten hastig, schenkten roten Wein ein, Adolf ließ die Gläser überlaufen, goss daneben und nuschelte unverständlich etwas, das vielleicht eine Entschuldigung war. Jossif Wissarionowitsch klatschte die Fleischscheiben des Hirschrückens, indem er jedes Mal heiser »Da!« rief, derart schwungvoll auf die Teller, dass der blutige Saft auf das weiße Tischtuch spritzte und, mit den Rotweinlachen und dunkelbraunen Soßenflecken vermischt, der Tafel bald das Ansehen eines Schlachtfelds verlieh, auf dem Rosenkohlköpfchen herumkullerten, die Adolf vom Vorlagelöffel gerollt waren und einige Gäste dazu anregten, sie mit dem Zeigefinger einander zuzuschnipsen. Niemand regte sich über das verheerende Ungeschick der beiden auf. Man erwartete nichts anderes. Am Haupt der Tafel hatte Reeper Platz genommen, neben ihm saß seine Gattin, ihr zur

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