Die Nacht der Haendler
schreckliche Tat! Vor ihr scheuen alle Mittelmäßigen zurück, alle, die zu ängstlich, zu dumm, zu minderwertig sind, um zu begreifen, dass der Fortschritt des Glücks von den wenigen abhängt, die den Tod auf ihre Seele laden, damit das Leben vorangeht! So einer war unser Hans! So groß war seine Seele, so stark und so treu! Und jetzt? Seht ihn euch an. Was macht der Verrat aus einem Menschen! Er krümmt sich unter dem jämmerlichen Gewissen, das ihn feige macht. Er vergeht vor kleinlicher Scham. Und schon sehnt er sich nach dem Tod, der ihn erlösen soll – ihn, der einst über den Tod herrschte wie kaum einer!« Er machte eine Pause, damit wir uns Stieftaal in seiner Erbärmlichkeit genau betrachten konnten. Dann fuhr er fort, in sanftem Ton. »Du hast dich auf die falsche Seite gestellt, Hans. Du hast den falschen Verbündeten gewählt. Sieh hin auf deinen Verbündeten! Ihn, Heinrich, nenne ich jetzt meinen Sohn ! Und er wird dir nachfolgen als Hüter unseres Heiligtums! Wie leicht wäre es gewesen, ihn zu töten! Hat sich nicht Jatsu Tsin sofort auf den Weg gemacht? Hätte er nicht, ohne zu zögern, die Tat begangen – für mich? Aber ich wollte Heinrichs Tod nicht! Ich wollte, dass die Idee ihn ergreift, dass die Idee siegt! Und sie hat gesiegt, Hans! Denn sie ist die überzeugendste Idee der Welt! Sie lebt! – Und du hast sie geschändet – das Kostbarste, was dir gegeben war …« Wieder wechselte er den Ton und sprach wie ein gütiger Vater. »Ich muss dir nicht aufzählen, was du getan hast – du weißt es allzu gut! Es ist viele Jahre her, dass du die wunderbaren Büsten meines Kopfes, die Lucia gestaltet hat, von ihren mit Liebe ausgesuchten Plätzen im Haus entfernt und auf den Speicher geworfen hast wie irgendwelches altes Zeug, das man nicht mehr brauchen kann. Damals schon ahnte ich deine beginnende Verwirrung! Aber ich gab dir Zeit. Ich kenne die schreckliche Macht des Zweifels, die dunklen Stunden der Ungewissheit. Die Rettung der Welt ist eine zu große Aufgabe, als dass wir sie ohne Anfechtung erfüllen könnten! Ich hoffte darauf, dass du dich wieder auf unser gemeinsames Werk besinnen würdest! Denn ich liebte dich wie ein Bruder. Und es tut mir noch immer im Innersten weh, dass ich jetzt so zu dir sprechen muss. Glaube mir, es schmerzt mich mehr als dich. Du meinst, ich sei schwach. Aber ich bin gütig. Du meinst, du könntest mich bezwingen. Aber ich bin unüberwindlich. Du meinst, du dürftest dich über mich erheben. Aber du kennst deine Strafe nicht.« Zum ersten Mal regte sich Stieftaal und hob er den Kopf. Reeper sah es und wechselte seinen Ton zu anklagender Schärfe. »Du hoffst, der Tod wird dir gnädig sein, Hans. Du fühlst dich schon unserer Gerichtsbarkeit entzogen. Aber wir – wir , Hans, wir werden nicht von dir lassen. Dein stinkender Leib wird sterben und vielleicht draußen liegen auf der Insel wie meiner.
Aber du wirst einverwandelt werden in unsere Welt! Und du wirst weiter mit uns sein – das Programm eines Verräters! Und du wirst unsere Fragen beantworten müssen in alle Ewigkeit!« Stieftaal richtete sich auf. Die Kapuze glitt langsam von seinem Kopf in den Nacken. Ein paar Strähnen graugelben Haars klebten an seinen Schläfen und seinem Hinterkopf. Die nackte Schädeldecke war von grindigen Borken bedeckt. Sein Gesicht glänzte schweißnass – aber war dies noch ein Gesicht, diese eingestürzte Landschaft aus Fieber und Angst? Mühsam hob er den rechten Arm, ballte die Finger zur Faust und hielt sie Reeper entgegen: nur noch eine drohende Gebärde, der die Kraft des Körpers fehlte. Der Arm zitterte, aber er hielt ihn erhoben und stieß, für fast jedes Wort Atem holend, rau und leise seine Sätze hervor. » Du hast die Idee verraten! Du hast die Zerstörung der Bilder gepredigt. Aber du selbst hast dich in den Bildern gesuhlt. Du hast dich zum Bild gemacht! ihr könnt mit mir tun, was ihr wollt. Meinen Tod könnt ihr mir nicht stehlen. Niemals werde ich in eurer schrecklichen Welt sein. Ich werde sterben. Ich bin ein Mensch. Ich bin kein Programm. Gott wird mich richten. Ich werde sterben . Und glücklich sein.« Er ließ den Arm sinken und schloss die Augen. Reeper klatschte vor Vergnügen in die Hände. »Er weiß es nicht! Hört ihr? Er weiß es nicht! Er ist mitten unter uns und weiß es nicht! Ich beantrage, den Angeklagten zur virtuellen Ewigkeit zu verurteilen!« Bravorufe aus dem Publikum steigerten seine Heiterkeit, er winkte den Zuschauern mit
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