Die Nacht Der Jaegerin
den Leuten, die sie eigentlich angehen: Eheprobleme, Sorgen wegen Krankheiten oder der Zukunft der Kinder. Die Gespräche verliefen erstaunlich konzentriert, und wenn gebetet wurde – was üblicherweise gegen Ende der Versammlung geschah –, dann spontan, als stiege Bodennebel aus dem Tal des Mittelgangs.
Es war
richtiges
Beten ... und irgendwie besiegelte es die gegenseitige Diskretion. Keines der Probleme, die in der Kirche besprochen wurden und schließlich in ein Gebet mündeten, war Merrily je als Dorfklatsch wiederbegegnet.
Die Zusammenkünfte ermutigten Merrily. Es war höchste Zeit für so etwas gewesen. Und was sie in diesem Stadium als Letztes brauchen konnte, war, dass darüber irgendwelche Märchen erzählt wurden.
Jim und Brenda Prosser betrieben den Gemischtwarenladen im Zentrum des Dorfes. Ihre Tochter Ann-Marie, die sich im Sommer zuvor unauffällig hatte scheiden lassen, war in die Wohnung über dem Laden gezogen und half an den Wochenenden aus, bevor sie mit ihren Freunden durch die Clubs von Hereford zog. Über Ann-Maries Krankheit wurde hinter vorgehaltener Hand seit Wochen geredet. Gezwungenes Lächeln an der Kasse, Getuschel über
Labortests.
An einem Samstagabend zwei Wochen zuvor hatte Alice Meek vom Imbiss in der Old Barn Lane gesagt:
Brenda will nicht darüber sprechen, aber es sieht nicht gut aus. Können wir denn wirklich gar nichts tun?
«Alice», sagte Brenda jetzt. «Sie kennen Alice ja.»
«Die nimmt wirklich kein Blatt vor den Mund», sagte Jim.
«Wir haben Alice heute auf dem Rückweg von Dr. Kent getroffen, und sie schien es zu
wissen.
»
«Das hat sie dir nur vom Gesicht abgelesen, Liebste», sagte Jim zärtlich.
Der Wasserkessel begann zu zischen, und Merrily gab Tee in die Kanne. Brenda setzte sich endlich hin. Sie war Anfang sechzig, hatte in letzter Zeit stark abgenommen – kein Wunder –, und ihr blondiertes Haar ließ viel Weiß durchschimmern. Gelegentlich zitterte ihre Hand. Brenda saß gegenüber von Merrily am Refektoriumstisch und starrte sie an, als hätte sie die Pfarrerin noch nie gesehen.
«Alice hat uns von den besonderen Gebeten für Ann-Marie bei Ihrem Gottesdienst erzählt.»
«Na ja, die waren nichts ...» Merrily sah auf die Tischplatte hinunter. Natürlich waren sie etwas Besonderes gewesen; jedes Gebet sollte etwas Besonderes sein.
«Alice hat erzählt, dass sie jedes Zeitgefühl verloren hatte. Sie sagte, es hätte ein Gefühl geherrscht, als wären alle miteinander vereint, verstehen Sie? Als gehörten alle zusammen. Auch die neu Zugezogenen, die sie nicht kannte. Alle waren miteinander vereint und Teil von etwas, das ...
größer
war als sie selbst. Sie hat gesagt, so etwas hätte sie noch nie erlebt.»
Der Gefühlsüberschwang ließ Brendas walisische Aussprache stärker hervortreten. Die Prossers waren vor etwa fünfzehn Jahren von Brecon nach Ledwardine gezogen. Merrily war peinlich berührt und unsicher. Und sie freute sich natürlich auch – für die Prossers und Ann-Marie. Es war wirklich wunderbar, und Merrily war klar gewesen, dass sie eine überraschend bewusste Gebetsebene erreicht hatte, aber ...
«Was hat Dr. Kent genau gesagt?»
«Er hat Ann-Marie kurz nach dem Mittagessen angerufen», sagte Jim. «Er sagte, er wüsste es schon seit Freitag, wollte aber noch nichts sagen, für den Fall, dass ein Irrtum vorliegt. Falls sie irgendwie die Ergebnisse vertauscht hätten oder so. Er meinte, er hätte es nicht für möglich gehalten, dass die neuen Untersuchungen keine Auffälligkeiten mehr zeigen, er konnte es einfach nicht glauben. Also hat er gestern den ganzen Tag versucht, den Facharzt ans Telefon zu bekommen, aber er hat ihn erst heute Morgen zu Hause erreicht. Der konnte es auch nicht glauben.»
«Und er hat zweifelsfrei bestätigt, dass die Tomographie ...»
«Sauber. Es war nichts zu sehen. Und es war
ihre
, da gab’s auch keinen Zweifel. Es ist kein Irrtum, Merrily.»
«Und was hat der Facharzt dazu gesagt?»
Jim zuckte mit den Schultern. «Sie kennen doch diese Typen.»
«Vielleicht haben sie ...» Merrily biss sich auf die Unterlippe.
Vielleicht haben sie ja bei der ersten Untersuchung einen Fehler gemacht.
«Um ehrlich zu sein, Merrily, ich war nie ein echter Kirchgänger», sagte Jim. «Ich betreibe hier einen Laden und lege mich krumm, damit er ein bisschen Gewinn abwirft. Ich bin bloß manchmal in die Kirche gegangen, weil es sich so gehört.»
Brenda setzte sich auf. «Jim!»
«Nein, lass
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