Die Nacht der Wölfe
schien sie noch nicht zu erkennen; er war wohl zu erschöpft, um die Welt schon mit allen Sinnen wahrzunehmen. Oder stahl sich da vielleicht doch ein sanftes Lächeln auf sein Gesicht?
»Er hat Ihren Namen geflüstert, als er wach war, Ma’am. Clarissa … immer nur Clarissa. Ich wollte ihn zu Rose bringen, meiner Frau. Sie wissen ja, wie gut sie mit Kranken umgehen kann. Aber hierher war es näher, und ich … ich dachte mir auch, Sie wollten ihn vielleicht gleich sehen … Er ist es doch? Es ist doch Ihr Mann?«
Sie blickte in sein durchfrorenes Gesicht, nahm es in beide Hände und küsste ihn sachte auf die Stirn. »Ja, er ist es, John! Es ist Alex! Ich bin Ihnen so unendlich dankbar … Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll …« Sie berührte das Amulett auf ihrer Brust. »Das Amulett Ihrer Frau hat sicher geholfen. Ich danke Ihnen, John, vielen Dank!«
Inzwischen waren auch Doc Boone und Betty-Sue auf sie aufmerksam geworden.
»Ins Krankenhaus mit ihm!«, rief der Doktor einigen Männern zu. »Ich kümmere mich gleich um ihn. Helfen Sie mir, Betty-Sue! Beeilen Sie sich!«
Clarissa wich Alex nicht mehr von der Seite. Sie lief neben den Männern her, als sie ihn ins Krankenhaus trugen, hielt seine Hand, als wollte sie jedem zeigen: Seht her, mein Mann lebt! Es gibt doch noch Wunder! Er lebt und wird noch lange an meiner Seite sein! Sie merkte gar nicht, dass Dolly ebenfalls aus dem Haus gerannt war und neben ihr herlief, blickte erst auf, als die Freundin ihr eine Hand auf die Schultern legte und sagte: »Jetzt muss ich wohl doch einen Besen fressen, mit Stiel und allem, was dran ist!«
Im Krankenhaus legten ihn die Männer auf ein Bett, und Clarissa wartete ungeduldig, bis Doc Boone seine Untersuchung abgeschlossen hatte. »Er wird sich wieder erholen, Ma’am. Fallensteller sind zäh, und er ist ein besonderes Exemplar. Sobald er wieder zu sich gekommen ist, wird Betty-Sue ihm eine kräftige Fleischbrühe kochen. Aber wegen der Sache, die ich von dem Kollegen in Koyuk gehört habe … Ich würde ihn so schnell wie möglich nach Anchorage zu diesem Professor bringen.«
»Professor Dr. Ralph M. Blanchard«, erklärte Betty-Sue. »Er leitet das Krankenhaus, in dem ich gearbeitet habe.«
»Flemming gibt Ihnen ganz bestimmt Kredit«, sagte Doc Boone.
Clarissa nickte dankbar und setzte sich neben ihren Mann. Sie wartete geduldig, bis die Wärme ihn in die Wirklichkeit zurückgeholt hatte, und lachte und weinte zugleich, als er endlich die Augen öffnete und sich sein vertrautes Lächeln darin spiegelte.
»Cla-Clarissa!«, stammelte er aufgeregt. »Träum ich, oder bi-bist du’s wirklich? Verdammt, Clarissa, du bist es, nicht wahr?«
»Ja, ich bin es«, erwiderte sie. Ihre Augen waren so feucht, dass sie ihn kaum sah. »Ich bin es, und du bist endlich wieder zu Hause!« Sie küsste ihn zärtlich, auf die Stirn, die Augen und den Mund. »Was hast du dir nur dabei gedacht, dich einfach aus dem Staub zu machen? Du glaubst doch nicht, dass du mir zur Last fallen würdest, wenn … das glaubst du doch nicht wirklich?«
»Du weißt von … von meiner Krankheit?«, wunderte er sich.
»Das war nicht schwer herauszubekommen. Der Kredit bei Flemming … und dann wusste irgendjemand, dass du bei Doktor Candleberry gewesen warst …«
»Der Kredit …«
»Hat Dolly uns vorgestreckt. Dolly Kinkaid … du erinnerst dich doch an sie? Sie hat ein Roadhouse eröffnet, und ich arbeite zeitweise mit, um die Schulden zu bezahlen … und die Operation. Morgen fahren wir nach Anchorage. Du bist ein zäher Bursche, sonst wärst du längst tot … Wenn einer die Operation übersteht, dann du. Das Geld streckt uns Flemming sicher vor.«
»Flemming? Der gibt uns nichts mehr.«
»Hast du eine Ahnung!« Sie küsste ihn wieder, lachte dabei vor Vergnügen und Erleichterung, genoss seine Nähe und den vertrauten Geschmack seiner Lippen.
»Wo warst du die ganze Zeit, Alex? Ich hab dich überall gesucht. In den Bergen bei der Felsspalte, bei den Indianern und den Yupik, in Nome …«
»Du warst in Nome? Aber das ist …«
»… eine verdammt weite Reise!«, ergänzte sie. »Dolly war dabei. Sie tat alles, um mir die verrückte Idee auszureden, dass du noch am Leben wärst, und als dieser Rentierzüchter von einem Indianer erzählte, der dein Gewehr dabeihatte und von einem Mann berichtete, der zum Sterben aufs Meer hinauslaufen wollte, dachte ich, du hättest dich vielleicht doch … vielleicht doch aus dem Leben gestohlen,
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