Die Nacht des einsamen Träumers.
hatte, stieg er aus dem Auto, überquerte die Straße, öffnete rasch die Haustür und zog sie hinter sich zu. Es regnete nicht mehr, dafür war der Wind stärker geworden. Der Commissario steckte sich eine Zigarette an. Keine zehn Minuten später erschien Orazio Genco wieder, zog die Haustür zu, rannte über die Straße, öffnete die Wagentür und stieg ein. Er zitterte, aber nicht vor Kälte.
»Los, fahren wir.« Montalbano gehorchte. »Was hast du?«
»Ich bin so erschrocken.«
»Red schon!«
»Die Tür war zu, ich hab sie aufgemacht und...«
»War der Zettel noch da?«
» Sissi . Ich bin reingegangen. Alles war wie vorher, das Licht im Schlafzimmer war noch an. Dann bin ich näher hingegangen... Commissa, die Tote war nicht tot!«
»Was sagst du da?!«
»Was ich gerade gesagt habe. Der Tote war er, der General. Er lag auf dem Bett wie vorher seine Frau, mit Rosenkranz und Taschentuch.«
»Hast du Blut gesehen?«
»No-si, das Gesicht des Toten hat sauber ausgesehen.«
»Und seine Frau, die ehemalige Tote, was hat die gemacht?«
»Sie saß auf dem Stuhl am Fuß des Bettes und hielt sich weinend eine Pistole an den Kopf.«
»Orà, du machst doch keinen Witz, oder?«
»Commissa, warum sollte ich?«
»Komm, ich fahr dich nach Hause. Lass das Fahrrad stehen, es ist kalt.«
Dürfen zwei alte Leute, Mann und Frau, nachts in ihrer Wohnung tun und lassen, was ihnen in den Sinn kommt? Sich als Indianer verkleiden, auf allen vieren krabbeln, sich kopfüber an die Decke hängen? Natürlich dürfen sie das. Und nun? Wenn Orazio Genco keine Skrupel bekommen hätte, dann hätte er, Montalbano, von dieser ganzen Geschichte nichts erfahren und seelenruhig die drei Stunden, die ihm noch blieben, geschlafen, anstatt sich jetzt, fluchend und immer nervöser, im Bett herumzuwälzen. Da war nichts zu wollen: Er verhielt sich bei einer Geschichte, an der etwas faul war, wie Orazio Genco vor einer halb offenen Tür, er musste einfach hineingehen, das Wie und Warum herausfinden. Was hatte diese Art Zeremonie zu bedeuten?
»Fazio! Sofort zu mir, schnell!«, rief Montalbano, als er ins Büro kam. Der Morgen war noch schlimmer als die Nacht, scheußlich und kalt.
»Dottore, Fazio ist nicht da«, sagte Gallo, der ihm
entgegenkam.
»Und wo ist er?«
»Heute Nacht hat es einen Schusswechsel gegeben, einer von den Sinagras wurde getötet. Das war vorauszusehen, Sie kennen das ja: einmal einer von der einen Familie, das nächste Mal einer von der anderen.«
»Ist Augello mit Fazio unterwegs?«
»Sissi. Hier sind ich, Galluzzo und Catarella.«
»Sag mal, Gallo, weißt du, wo die Werkstatt von Giugiu Loreto ist?«
» Si-s-signore.«
»Über der Werkstatt sind zwei Wohnungen. In einer wohnt Tanino Bracceri, in der anderen ein altes Ehepaar. Ich will alles über die beiden wissen. Fahr sofort los.«
»Also, Dottore. Er heißt Di Giovanni Andrea, vierundachtzig Jahre alt, pensioniert, geboren in Vigàta. Sie heißt Zaccaria Emanuela, geboren in Rom, zweiundachtzig Jahre alt, pensioniert. Sie haben keine Kinder. Sie leben zurückgezogen, aber es geht ihnen wohl nicht schlecht, denn das ganze Haus gehört Di Giovanni, sein Vater hat es ihm hinterlassen. Er hat eine Wohnung an Tanino Bracceri verkauft, behalten hat er die, in der er wohnt, und die Werkstatt, die er an Giugiù Loreto vermietet. Früher haben sie in Rom gelebt, vor etwa fünfzehn Jahren sind sie hierher gezogen.«
»War er General?«
»Wer?«
»Wie, wer? Dieser Di Giovanni, war der General?«
»Aber nein! Sie waren Schauspieler, beide, der Mann und die Frau. Giugiu hat gesagt, dass ihr Wohnzimmer voller Theater- und Kinofotos hängt. Sie haben Giugiù erzählt, sie hätten mit den größten Schauspielern gearbeitet, aber immer als, warten Sie, ich muss erst nachschauen, ich hab's mir aufgeschrieben, da, als Charakterdarsteller.«
Anscheinend wollten sie in Übung bleiben. Oder sie gingen noch mal alte Szenen durch, die sie wer weiß wann gespielt hatten. Vielleicht spielten sie die Szene nach, die den größten Erfolg in ihrer ganzen Karriere gehabt hatte, die Szene, für die sie am meisten Applaus bekommen hatten... Ach was. Das konnte nicht sein: Der Rollentausch ergab keinen Sinn. Doch eine Erklärung musste es geben, und Montalbano wollte sie haben. Wenn er sich in etwas festbiss, war nichts zu wollen. Er musste sich einen Vorwand einfallen lassen, um mit dem Ehepaar Di Giovanni sprechen zu
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