Die Nacht des Satyrs
Zeichnung vom letzten Jahr. Es handelte sich um eine akkurate, detaillierte Darstellung, auf der ihre Schamlippen sehr viel dünner und weiblicher wirkten. Warum waren sie seither fühlbar angeschwollen? Was auch der Grund sein mochte, es bereitete ihr Sorge.
Mondroli räusperte sich, bewegte zwei Finger auf und ab, die auf ihre Scham wiesen, und erklärte: »Ihr, ähm, Ding ist im Weg.«
Mit der anderen Hand griff Jordan nach unten und richtete jenen Teil von sich, der ihr Leben so entsetzlich verkomplizierte: den maskulinen Schaft, der an der Stelle aus ihrem Körper wuchs, wo bei jeder anderen Frau eine Klitoris war.
Sie legte ihn auf ihren Venushügel, worauf die Spitze zu ihrem Nabel wies, genau wie auf der anderen Zeichnung. Dieser Auswuchs, der viel zu groß für eine Frau und ziemlich klein für einen Mann war, verdammte sie, auf immer zwischen beiden Geschlechtern zu stehen, weder zu dem einen noch zu dem anderen zu gehören. Nicht ganz ein Mann, nicht ganz eine Frau.
Dennoch war bei ihrer Geburt eine Geschlechtswahl für sie getroffen worden. Ihre Mutter und Salerno waren übereingekommen, den Auswuchs als Phallus zu werten und zu bestimmen, dass Jordan ihr Leben als Mann führen sollte. In letzter Zeit wuchs Jordans Furcht, dass die Wahl der beiden sich als richtig erweisen könnte.
Seit ihre Schamlippen vor zehn Monaten begonnen hatten, dicker zu werden, bereitete ihr Phallus ihr Kummer. Jordan wachte häufig mitten in der Nacht auf und bemerkte, dass er angeschwollen war und pulsierte. Noch dazu suchten sie seither diese seltsamen Träume heim.
»Geschätzte Kollegen!«, dröhnte Salernos Stimme hinter dem Vorhang durch das Theater.
Jordan und der Künstler zuckten gleichzeitig zusammen. Und sie riss ihre Hand aus ihrer Scham zurück, als wäre sie bei etwas Sündigem ertappt worden.
»Heute werden Sie ein wahres Wunder zu sehen bekommen«, verkündete Salerno. »Eines, für das Ihre Reise zu unserem medizinischen Diskurs sich gelohnt haben wird. Denn hinter diesem Vorhang habe ich zum Zwecke medizinischer Studien ein …« Hier legte er eine Pause ein, um den dramatischen Effekt zu steigern. »… ein Wesen von einer Beschaffenheit, wie Sie es nie zuvor gesehen haben noch in Zukunft sehen dürften. Manch einer würde bei solch einem Geschöpf von einer Monstrosität, einer Missgeburt sprechen …«
Er redete weiter, aber Jordan hörte ihm nicht mehr zu. Sie kannte das alles schon. »Könnte er doch bloß zusammengewachsene Zwillinge und eine Ziege mit zwei Köpfen finden, dann hätte er seinen eigenen Jahrmarktswagen beisammen!«, murmelte sie.
Der Maler ignorierte sie, weil er ganz damit befasst war, seine Skizze fertigzubekommen. Seine Hand bewegte sich in Windeseile über das Blatt, und seine Striche wurden immer schneller, da ihm keine Zeit mehr blieb.
Jordan schaute ihm zu, wie er zwischen ihren Beinen arbeitete, und wünschte, er würde langsamer machen. Ihr graute vor der Untersuchung, die dieser Porträtsitzung folgte. Zugleich aber sehnte sie sich auch nach einer Erklärung für die Veränderungen, die ihr Körper im letzten Jahr durchgemacht hatte. Und diese wiederum konnten ihr Salerno und seine Anhänger aus der Medizin zweifellos geben.
Salernos Stimme wurde lauter, was vor allem ihr als Signal galt, dass die Enthüllung unmittelbar bevorstand.
Jordan ließ den Umhang fallen, stützte sich splitternackt auf beide Ellbogen auf und harrte der Dinge, die da kommen würden.
»Meine Herren! Darf ich vorstellen …«
Die Vorhänge bewegten sich ein wenig, als Jordans Peiniger die Schnur mit der Troddel packte, und der schwere Samt wurde mit einem kräftigen Schwung auseinandergezogen, ehe Salerno mit unüberhörbarem Stolz den Satz vollendete. »… der Hermaphrodit!«
[home]
2
H
atschi! Hatschi! Haaaatschi!
Lord Raine Satyr, der Zweitgeborene der drei wohlhabenden und begehrten Herren von Satyr, nieste dreimal hintereinander. Tauben flatterten gurrend um ihn herum auf, als er die weitläufige Piazza San Marco in Richtung jener Straßen überquerte, die ihn zu den Vortragssälen führten. Dort wurde heute ein Symposium abgehalten, das er besuchen wollte.
Hinter ihm hieben ein Paar Bronzefiguren mit ihren Hämmern auf die große Glocke oben im Campanile ein.
Fünf Uhr. Das konnte doch nicht sein! Er zog seine Taschenuhr hervor. Doch, so war es.
Bei allen sieben Teufeln, er verspätete sich! Der Nachmittagsvortrag über die traubenvernichtende Reblaus namens Phylloxera
Weitere Kostenlose Bücher