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Die Geliebte des Gelatiere

Die Geliebte des Gelatiere

Titel: Die Geliebte des Gelatiere Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Zahno
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Daniel Zahno
    Die Geliebte des Gelatiere
    Roman
    weissbooks.w
    Die Geliebte des Gelatiere
    Der Autor dankt der Pro Helvetia und dem Fachausschuss
Literatur beider Basel für die Unterstützung.
    1
    Geboren bin ich an einem elften Elften, und obwohl ich kein Schnapstrinker bin, nehme ich an, dass das kein Zufall ist. Mein Vater nannte mich »Stuccatore«, »Gipser«. Ich weiß nicht, wie er darauf kam, für ihn war ich einfach der Stuccatore, obwohl mich Gipsen nie interessiert hat. Er arbeitete als Bootsführer auf einem Vaporetto, und ich war stolz, wenn ich ihn auf dem Canal Grande am Ruder sah. Meine Mutter half in einem Coiffeursalon in der Via Garibaldi im Sestriere Castello aus. Beide waren als junge Leute vom Festland nach Venedig gezogen, um hier ihr Glück zu versuchen.
    In meiner frühen Kindheit bestand dieses Glück aus einer winzigen Zweizimmerwohnung im zweiten Stock eines braunroten Hauses am Rio della Misericordia. Es war ruhig, hatte ein Gärtchen und einen Innenhof. Von der Waschküche ging eine Türe auf den Innenhof, und wenn meine Mutter wusch, saß ich auf dem Treppenabsatz oder schoss den Ball gegen die modrigen Mauern, während im Hof der Duft frischer Wäsche aufstieg.
    Im Cannaregio, wo ich aufwuchs, lebten die einfachen Leute. Die Nachbarn, mit denen wir zu tun hatten, waren Maurer, Konditoren, Gelatieri. Anwälte, Lehrer oder Ärzte wohnten anderswo. Wir lebten am äußersten Rand Venedigs, ganz im Norden, »fora dal mondo«, außerhalb der Welt, wie selbst die Venezianer sagten. Gondeln gab es hier keine, Touristen verirrten sich selten hierher. Was mit Sicherheit kam, war nur das Wasser.
    Vor dem Haus hatten wir ein kleines hellblaues Holzboot. Wenn Venezia am Wochenende nicht im Penzo spielte, fuhren wir damit in die Lagune hinaus. Manchmal fuhren wir auch einfach durch die Stadt, wobei mein Vater am liebsten den Rio del Santissimo ansteuerte, der unter der Kirche von Santo Stefano durchführt, um dort Pope hoi in die Luft zu schmettern, während gerade die Messe gelesen wurde.
    Das war die Welt meiner Kindheit – das Leben mit dem Wasser, auf dem Wasser, auf Tausenden von Pfählen, umspült von Wellen, ein ständiges Schwanken, Schwappen und Schaukeln. Wir führten ein nahezu nautisches Leben, waren tief im Herzen alle irgendwie Matrosen, Seefahrer, Seefrauen, auch wenn keiner von uns schwimmen konnte. Als ich zum ersten Mal Festland betrat – ich war damals fünf Jahre alt –, war das ein Schock. Ich hatte gedacht, dass alle Leute so lebten wie wir. Ich sah keinen Reiz darin, mit Autos auf Straßen zu fahren oder in Hochhäusern zu wohnen.
    Aber nicht nur meine ersten Gehversuche auf dem Festland waren schwierig. Auch die erste Zeit in der Schule setzte mir zu. Ich musste lernen, dass das ein ganz anderes Terrain war, eine Art »Terraferma« des Sozialen. Meine Klassenkameraden waren größer, stärker und lauter als ich. Von Anfang an war ich ein Außenseiter. Ein typisches verzogenes Einzelkind, das war das Bild, das die anderen von mir hatten. Allein das Wort Einzelkind verletzte mich – als ob es eine Krankheit wäre, alleine aufzuwachsen; als ob man nicht ganz normal wäre, wenn man ohne Geschwister aufwuchs; als ob man davon einen bleibenden Schaden davontragen müsste. Dabei sprach man ja auch nicht von Mehrfachkindern. Aber das zählte nicht. Was zählte, waren Eigenschaften, die in den Augen meiner Kameraden untragbar waren. Viel zu zerbrechlich und kränklich. Viel zu ruhig und zurückhaltend. Viel zu klein und zu schwach. Alles andere als ein Stuccatore.
    Erst als die Tochter eines Amerikaners und einer Römerin in unsere Klasse kam, veränderte sich meine Situation. Weil ich in den meisten Fächern besser als die anderen war, wurde sie neben mich gesetzt. Ich sollte mich um sie kümmern und ihr helfen, wenn sie nicht mitkam. Ich war gar nicht begeistert. Ich war in einem Alter, wo man mit Mädchen nichts zu tun haben wollte, wo es unmöglich war, neben einem Mädchen zu sitzen. Ich fürchtete den Spott der anderen Jungen, fürchtete, als »Mädchenschmecker« verschrien zu werden, was das Übels-
te war, was einem angehängt werden konnte, übler noch als »Einzelkind«.
    Aber die Neue war auch ein Einzelkind. Und obwohl ich erst skeptisch, ja abweisend war, mich tollpatschig und unsicher benahm, verstanden wir uns nach anfänglicher Verkrampfung immer besser. Sie hieß Noemi. Ihr Italienisch hatte einen amerikanischen Akzent, der etwas Anziehendes hatte. Sie war

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