Die Nacht des Schierlings
Männern der Stadt, es wäre dumm gewesen, ihn zu verärgern. Noch dümmer, ihn zu verspotten.
Die Jungfer Runge mochte diese Stunde zwischen Nacht und Tag und wäre gerne ein Weilchen am Fenster geblieben, um zu lauschen und zu beobachten, während die rasch zunehmende Helligkeit die Stadt wie jeden Tag aufs Neue aus dem Dunkel erschuf, wie sich Dämmer zu Licht, Geräusche zum alltäglichen städtischen Lärm wandelten. Sie mochte auch die Gerüche dieser Stunde, wie den des Rauchs frisch angefachter Holz- und Torffeuer, den aus den wenigen verbliebenen Stadtgärten aufsteigenden taufrischen herben Duft. Diese Reinheit der Nachtstunden, bevor der Inhalt Tausender in die Gossen und Fleete geleerter Nachgeschirre, Urin und Kot zahlloser Zugpferde und -ochsen, Ausdünstungen der Schlachthäuser oder die brackige Feuchte und Muffigkeit aus Buden und Kellern die Gegenwart einer Überzahl von Menschen und Tieren auf zu engem Raum in Erinnerung rief.
Trotzdem mochte Molly Runge das Leben in der Stadt. In dieser Stadt. Die vielen Menschen, die vertrauten und die fremden, die sich hier niedergelassen hatten oder für einige Zeit ihren Geschäften nachgingen, die Gasthäuser, die stets belebten Märkte und Straßen, die schönen Kirchen, die Promenaden auf den Wällen, das Komödienhaus, die vielen Läden, der Hafen – es war ein buntes, immer aufregendes Leben.
Zu Besuch auf dem Land erfreute sie sich an der guten Luft, dem üppigen Grün und den schönen Gärten, besonders dem weiten Blick, dennoch zog es sie stets zurück. Bei allen Klagen, die sie hin und wieder anstimmte, war dies ihre Welt. Nirgends sonst fühlte sie sich ruhig und sicher. Obwohl sich seit dem Tod ihres Vaters, noch mehr nach der zweiten Heirat ihrer Mutter, so vieles geändert hatte.
«Einerlei», murmelte sie. Nun war es höchste Zeit. Die Hand schon auf der Türklinke, lauschte sie hinaus ins Treppenhaus. Das war Bruno Hofmanns Stimme, Meister der Fein- und Konfektbäckerei am Rödingsmarkt. Ihr Stiefvater.
Stritten sie? Nein, beide klangen – heiter? Wie zumeist am Morgen. Manchmal war es schwer, von seinem Tonfall auf eine Stimmung zu schließen. Für gewöhnlich war er gut gelaunt, an den anderen Tagen ging sie ihm lieber aus dem Weg. Was leichter gesagt als getan ist, wenn man im gleichen Haus lebt und alle Tage in der Backstube nur wenige Fuß voneinander entfernt arbeitet. Auch deswegen liebte sie es, in den großen Häusern der Stadt auszuhelfen oder bei besonderen Festlichkeiten direkt in deren Küchen Torten und Kuchen, Cremes und besonders ihre Spezialität, das Konfekt, herzustellen. An Anfragen mangelte es zum Glück nicht. Alles hatte sich zum Guten gewendet.
Wie seltsam, dachte sie und drückte endlich die Klinke herunter. Zum Guten gewendet. Sie wusste nicht, was daran seltsam klang, aber obwohl sie es vor wenigen Monaten noch für unmöglich gehalten hatte, war es jetzt so. Wahrscheinlich war sie in der ersten Zeit zu ungeduldig gewesen, zu misstrauisch. Überreizt, hatte ihre Mutter gesagt. Das gewiss nicht. Eifersüchtig? Keinesfalls. Zu jung vielleicht, zu kindlich noch. Auch das war vorbei.
Endlich trat sie aus ihrer Kammer im oberen Stockwerk. Ihre Tür schloss nahezu geräuschlos, der neue Hausherr achtete darauf, dass die Scharniere stets gut gefettet waren. Konditormeister Bruno Hofmann war kein für übergroße Empfindsamkeit bekannter Mann, aber quietschende Türen störten ihn mehr als Spinnweben und Mehlwürmer in der Backstube. Nun stand er auf dem unteren Treppenabsatz, die Arme um seine Ehefrau gelegt, und flüsterte etwas in ihr Haar. Dann sah er sie eindringlich an. «Das weißt du doch, Magda», sagte er. Als sie nicht antwortete, fasste er sie bei den Schultern, nicht unfreundlich, nur nachdrücklich. «Nichts hat sich geändert, Magda. Das weißt du!»
Molly sah ihre Mutter nicken, den Kopf noch gesenkt. Was sie dazu murmelte, drang nicht zu ihr herauf.
«So ist es recht», hörte sie dagegen ihren Stiefvater klar und deutlich, seine Stimme klang wieder sanft. «So liebe ich meine Magda. Und jetzt, Engelchen», er gab ihr einen nachlässigen Klaps aufs Gesäß, «wird flink gefrühstückt. Die Arbeit macht sich nicht von allein.»
Bei den letzten Worten hatte er im Aufsehen seine Stieftochter entdeckt und ihr, bevor er seiner Frau die Treppe hinabfolgte, zugezwinkert.
Dass Molly fröstelte, lag nur an der Frische des Morgens, auch wenn Elwa und der Lehrjunge die Feuer in Küche und Backstube längst
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