Die Nacht des Schierlings
den Garten geschlendert, betrachtete stirnrunzelnd die schon vom Roten ins Schwärzliche ihrer vollen Reife wechselnden kleinen Fruchtbüschel in den Hartriegelsträuchern, ohne sie wirklich zu sehen. Ebenso wenig nahm er jetzt die schon ins Gelbe changierenden Blätter des Ahorns wahr, in dessen Schatten er stand. Dabei zählte just dieser zu seinen Lieblingsbäumen, er ging sonst nie an ihm vorbei, ohne die Fingerspitzen über den vertrauten Stamm gleiten zu lassen. An der Börse, bei den Speichern oder im Kaffeehaus würde er es natürlich nicht erwähnen, doch seit Anne ihn gelehrt hatte, den Garten auch mit ihren Augen zu sehen, hatte er heimliche Vorlieben entwickelt.
Warum dachte er jetzt und ausgerechnet heute an Feinde? Weil er sich als Senator notgedrungen heftiger würde streiten müssen? Ihm fielen sofort ein paar Angelegenheiten und auch Namen ein, die heftigen Streit versprachen. Auseinandersetzungen gehörten dazu, sie waren nichts als Herausforderungen, die es zu bestehen galt. Aber Feinde? Echte, ihm Böses wünschende Feinde? Die gab es nicht. Früher hatte er manchen Strauß auszufechten gehabt, gewiss, aber nun, in seinem gesetzten Alter – schon lange nicht mehr. Und wenn doch? Achselzuckend schlenderte er weiter. Dann hatte er eben Feinde. Wie andere Männer auch.
Die Zeiten änderten sich. Eine neue Herausforderung kam gerade recht, sonst rostete er nur ein. Christian hatte sich zu einem exzellenten Kaufmann gemausert, er bewies die richtige Mischung aus Wagemut, Vorsicht und Weitsicht, ohne sich der Erfahrung seines Vaters zu verschließen. Also überließ Claes Herrmanns seinem älteren Sohn stetig mehr Raum bei der Arbeit im Kontor, am Hafen oder in den Speichern, zögernder beim täglichen Gang zur Börse, bereitwilliger bei lästigen, zuerst den Geschäften dienenden Einladungen. Er hatte nie vergessen, wie er selbst das Familienunternehmen beinahe verlassen hätte, weil sein Vater ihm lange keinen Zollbreit Platz gemacht hatte. Heute war es für geschickte junge Kaufleute leichter als früher, irgendwo in der Welt neu anzufangen oder eine Dependance aufzubauen. Christian sollte gar nicht erst auf einen solchen Gedanken kommen. Herrmanns brauchte ihn nicht nur als Kompagnon und Nachfolger, er liebte seinen Sohn und wollte ihn in seiner Nähe wissen. Schlimm genug, dass seine einzige Tochter weit weg in den amerikanischen Kolonien lebte. Auch Niklas, sein jüngerer Sohn, würde bald das Haus verlassen, um in Göttingen zu studieren.
Natürlich blieb er der Primus seines Handelshauses, aber Christian würde sich umso lieber mit ihm beraten, je mehr er die Verantwortung mit ihm teilte, sogar bereit war, von dem Jüngeren und dessen frischer Sicht auf die Welt zu lernen. Das fiel leichter, seit er erlebte, wie Christian respektiert wurde. Sicher, er war ein Herrmanns, das bedeutete viel in der Stadt, aber in einer Kaufmannsrepublik wurde niemand einzig wegen seines guten Namens respektiert. Letztlich zählten nur Leistung, Verlässlichkeit, Erfolg. Und Honorigkeit. Die wohl noch mehr als Erfolg.
Er war seinen Gedanken gefolgt, ohne darauf zu achten, wohin sie ihn führten. Er erinnerte sich, dass er das letzte Glashaus passiert und dessen vorderes Fenster trotz der rasch abkühlenden Nachmittagsluft noch weit offen gestanden hatte. Nun zwang ihn ein Gestrüpp, stehen zu bleiben, er blickte sich irritiert um. Das Grundstück war nicht sehr weitläufig, jedenfalls wenn man es an etlichen der Gärten in den Billemarschen, den Vierlanden oder gar den Walddörfern maß. Als er dieses damals für den Kauf prüfte, hatte er es bis in die letzte Ecke erkundet, nun fand er sich plötzlich auf einem feuchten Wiesenfleck zwischen dichtem Gebüsch, verwahrlosten dornigen Hecken unter uralten Eichen und Ulmen wieder und war sicher, hier nie zuvor gewesen zu sein.
Er hatte keinen Graben überquert, keinen Zaun oder eine die Grenze markierende Hecke passiert, trotzdem musste er auf das Nachbargrundstück geraten sein. Eine solche Wildnis hätte Anne niemals auf seinem Besitz erlaubt, wie er hätte sie es als Verschwendung empfunden. Es war düster hier und roch moderig. Unwillkürlich hielt er den Atem an und lauschte – da war nichts. Ein Rascheln vielleicht im Unterholz. Von einem Igel? Einer Ratte? So nah am Wasser gab es meistens Ratten, eine Feldmaus wäre ja nicht zu hören. Er ließ den Blick durch dieses Stück Wildnis gleiten, dann fanden seine Augen in einer absterbenden, von Brennnesseln,
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