Die Nacht des schwarzen Zaubers
Alex Baumann ging zum Heck, löste die Leinen und stieß das Boot vom Steg ab. Sanft schaukelnd glitt es hinaus auf den See. Volker und Claudia zogen das Großsegel hoch, der schwache Wind verfing sich nur mühsam darin und blähte es kaum auf. »Meine Familie«, dachte Baumann stolz. Er übernahm das Ruder und den kleinen Hilfsmotor. Meine kleine, geliebte, vollkommene Welt. Brauche ich mir noch ein Paradies zu suchen irgendwo in einem fremden Teil der Erde?
Sie fuhren eine Stunde ganz langsam in der Mitte des Sees. Der Wind war jetzt fast ganz eingeschlafen, und das leise Schaukeln verführte zum Träumen. Sie lagen auf Deck in der Sonne, auf ›dem Grill‹, wie Baumann sagte; nur Volker saß vorn am Bug und beobachtete ein Segelflugzeug, das über dem See seine lautlosen Kreise zog.
Plötzlich sank er in sich zusammen, fiel auf die Seite und blieb so liegen, und weil der See ruhig war, rutschte er nicht vom Deck ins Wasser.
Claudia war die erste, die es bemerkte, als sie zufällig den Kopf hob, um die langen Haare vom Gesicht zu schütteln.
»Paps«, sagte sie, »dein Sohn fällt gleich von Bord. Er pennt genau am Rand.«
»He! Aufwachen!« Baumann setzte sich und klatschte in die Hände. »Volker! So ein Blödsinn.«
Aber der Junge rührte sich nicht. Er lag auf der Seite, mit angezogenen Beinen, und reagierte nicht. »Willst du einen Sonnenstich haben?« sagte Baumann. Er stand auf, tappte auf nackten Füßen hin zu seinem Sohn und stieß ihn mit der Zehe an. »Volker!«
Der Junge rührte sich nicht. Sein Gesicht, mit der linken Hälfte auf den Planken, war merkwürdig bleich, die Augen waren halb geöffnet, er atmete kaum, und als sich Baumann erschrocken niederbeugte und ihn auf den Rücken drehte, war es, als hielte er ein Wesen ohne Mark und Knochen in den Händen. Schlaff fielen die Arme zur Seite, der Kopf schlug auf die Dielen, unter den halbgeschlossenen Lidern schimmerte das Weiß der Augen.
»So ein dämlicher Kerl!« schrie Baumann. Er griff zu, zog seinen Sohn hoch und begriff erst jetzt ganz, daß er ohnmächtig war. Auch Marga und Claudia waren aufgesprungen und kamen jetzt herbeigelaufen.
»Sofort in den Schatten!« rief Baumann und schleifte Volker zum Kajüteneingang. Marga packte seine Beine, und Claudia schob ihre Arme unter den durchhängenden Körper des Jungen. So trugen sie Volker weg, stolperten die Treppe hinab und legten ihn auf die schmale Sitzbank.
»Wie oft habe ich das gesagt – nicht in die pralle Sonne!« sagte Baumann vorwurfsvoll. »Jetzt haben wir den Salat!« Er hörte, wie Marga Eis aus dem Kühlschrank holte. Sie kam nach kurzer Zeit mit dem improvisierten Eisbeutel zurück. Vorsichtig legte er ihn auf Volkers Kopf. Dann rieb er mit einem nassen Lappen, den Claudia brachte, die Arme des Jungen ab.
»Nun heult bloß nicht!« sagte er. Hinter ihm schluchzte Marga. Der herrliche Sonnentag war plötzlich voller Sorge und dumpfer Angst. »Er muß sofort ins Krankenhaus! Sofort! Nun dramatisiert das nicht; es haben schon Tausende einen Sonnenstich bekommen!«
Er rannte hinauf, warf den Hilfsmotor an und fuhr, so schnell es die kleine Schraube schaffte, zurück zum Bootshafen Werden.
Wie kann so etwas vorkommen? dachte er. Jetzt, allein mit sich, verlor er seine Sicherheit, die die anderen trösten sollte. Seine Hände begannen zu zittern und verkrampften sich um die Lenkstange des kleinen Motors. Volker ist doch Sonne gewöhnt! Und so heiß ist es auch wieder nicht. Wie ist das überhaupt mit einem Sonnenstich? Bleiben Schäden zurück? Mein Gott, wie soll ich Marga beruhigen? So ein schöner Tag – und plötzlich ist der ganze Zauber dahin.
Er wischte sich über das Gesicht und hörte von unten, aus der Kajüte, wie Marga immer und immer wieder Volkers Namen rief. Claudias Kopf erschien in der Tür. Er sah sie wie durch einen Schleier.
»Er wacht nicht auf, Paps!« rief sie. »Er wacht nicht auf!«
»Wir sind gleich im Hafen!« erwiderte Baumann. »Drückt ihm nur das Eis auf den Kopf.«
Er wacht nicht auf, durchfuhr es ihn. Das Zittern ergriff jetzt seinen ganzen Körper. Es war, als ob jeder Nerv in ihm entzündet wäre. Er wacht nicht auf! So etwas gibt es nicht! Er kann doch nicht einfach umfallen und nicht wieder aufwachen. Mein Junge, mein lieber Junge, du kannst doch nicht einfach …
Zwanzig Minuten später jagte der Krankenwagen mit Blaulicht und Sirene zum Krankenhaus. Marga saß neben Volker an der Trage, Baumann und Claudia fuhren im eigenen Wagen
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