Die Nachzüglerin (German Edition)
wegzuschmeißen, denn fürchtete ich mich vor den
gramzerschnittenen Gesichtern.
McDonald‘s bescherte der Stadt zu Weihnachten eine
Filiale am Bahnhof. Frieda bestand darauf, mit mir zu
feiern. Sie hatte ein paar Kerzen angezündet. Als
könnte es uns wirklich gelingen, flüsterte sie mir zu:
"Wir müssen das Dunkle vertreiben." Sie schenkte
Glühwein in ihre selbst getöpferten Teetassen. Ich
hatte Angst, sie mit der bloßen Hand zu zerbrechen,
weil sie so dünn waren und weil sie durch die feinen
Linien ihrer Bruchglasur so zerbrechlich wirkten. Dazu
servierte sie echte Nürnberger Lebkuchen. Sie hatte
sich extra eine Großpackung bestellt. Ich aß mit
Abscheu und Heißhunger. Ich suchte nach den
Fingerabdrücken der Verpackerinnen.
"Ist er nicht gut?"
"Eleni hat ihn verpackt."
Frieda schimpfte: "Du hast eine Sozialmeise. Ich
dachte, das gibt es nur bei uns. Ich freue mich, dass es
dir schmeckt. Du musst unbedingt wieder zunehmen."
Frieda schenkte mir einen schwarzen Lederrucksack.
"Damit du den Russenbeutel endlich wegschmeißen
kannst." Sie verabscheute meine abgewetzte rote
Plastiktasche aus Seidenimitat.
"Das ist eine Chinatasche", protestierte ich.
Ich machte Frieda ein Prinzessinnengeschenk.
Ungläubig legte sie sich die Perlenkette meiner
Großmutter um den Hals. "Ist die echt?"
"Natürlich nicht", log ich. Frieda hatte mir das Leben
gerettet. Sie hatte mich bei sich aufgenommen. Da
wollte ich mich revanchieren.
"Ich habe noch etwas für dich. Ein Stück
Zeitgeschichte. Du willst doch immer wissen, wie wir
in der DDR gelebt haben."
Ich hielt ein abgewetztes, himmelblaues Schreibheft in
den Händen Tagebuch aus der Pionierrepublik.
Werbellinsee. Ich schlug die erste Seite auf:
"Wir Thälmannpioniere halten unseren Körper sauber
und gesund, treiben regelmäßig Sport und sind
fröhlich. Wir stählen unseren Körper bei Sport, Spiel
und Touristik. Wir interessieren uns für die
Schönheiten unserer Heimat und wandern gern. Wir
rauchen nicht und trinken keinen Alkohol."
"Warst du eine Pionierin?"
"Ich war die beste Schülerin in der Klasse, ich musste
sechs Wochen in dieses Ferienlager fahren, als ich
zwölf war. Ich habe oft geheult."
"Darf ich weiterlesen?"
Frieda nickte. Ich sah, dass es ihr unangenehm war,
ihre Geschichte preiszugeben. Andererseits freute sie
sich über die Gier, mit der ich mich auf das Dokument
stürzte.
"Buchlesung mit Volker
An diesem Tag versammelten wir uns im
Gruppenraum, um Volkers Geschichte anzuhören.
Wir durften es uns auf Matratzen gemütlich machen,
und Volker erzählte uns eine Geschichte, deren Ablauf
sehr interessant war. Diese Geschichte handelte von
einem Jungen aus der BRD, seine Eltern waren
arbeitslos. Dem Jungen wurde die Möglichkeit
geboten, dass er in ein Ferienlager der DDR fahren
durfte. Dem Jungen wurden in der BRD viele Lügen
über die DDR erzählt, darum wollte dieser Junge nicht
in die DDR. Der Junge hatte noch lange Angst, dass
ihm in der DDR etwas angetan werden würde. Später
merkte er, dass er in der BRD nur Lügen gehört hatte,
und dem Jungen gefiel es in der DDR sehr gut. Er
erhielt während seines Aufenthaltes in der DDR eine
Pionierkleidung, die er mit Stolz trug. Als er in die
BRD zurückgekehrt war, begann auch bald wieder die
Schulzeit. Der Junge trug in der Schule die
Pionierkleidung. Sein Lehrer schickte ihn wegen dieser
Bekleidung nach Hause, damit der Junge sich etwas
anderes anziehen sollte. Der Junge und seine Eltern
zogen dann in die DDR, und die Geschichte war mit
diesen Worten beendet. Volker fragte uns, ob uns
diese Geschichte gefallen hat. Mir persönlich gefiel
diese Geschichte sehr gut, weil man hier erkennt, dass
wir mit Wahrheiten aufgezogen werden und Kinder
aus der BRD eingeschüchtert und belogen werden.
Wir wurden mit den Worten überrascht, dass Volker
der Junge war."
Wir stießen mit den Tontassen "auf die Wahrheiten"
an und aßen Lebkuchen, die nie zur Neige gehen
würden. Obwohl mir bereits schlecht war, aß ich noch
einen mit einer weißen Glasur, das war die Sorte, die
ich am wenigsten mochte.
"Warum bist du in Magdeburg?"
"Weil
ich
eine
Ostfrau
bin.
Meine
innere
Kompassnadel zeigt nach Osten." Ich fragte mich, ob
dies der wirkliche Grund war. Blieb ich, weil es hier
normal war, arbeitslos zu sein? Weil die Menschen hier
ehrlicher waren? Weil sie die Kunst des ZenSozialismus geübt hatten? Weil sie disziplinierter waren
und verbindliche Kontakte knüpfen konnten? Weil sie
sich immer die Hand gaben, wenn sie
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