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Die Nachzüglerin (German Edition)

Die Nachzüglerin (German Edition)

Titel: Die Nachzüglerin (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Regine Sondermann
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Kachelöfen und freute mich sogar über
die Mülltonnen, die morgens rauchten. Sie waren das
genaue Gegenbild zu den Tonnen meiner Kindheit, die
alle die Aufschrift getragen hatten: "Keine heiße Asche
einfüllen." Frieda schüttelte den Kopf. "Du erfährst
viel mehr über uns, wenn du hier arbeitest oder
zumindest Arbeit suchst. Ohne Arbeit bist du im
Kapitalismus kein Mensch. Das müsstest du eigentlich
besser wissen als ich. Du brauchst auch Geld."
"Kann ich nicht bei dir in der Kneipe arbeiten?"
Frieda lächelte mitleidig. "Piet stellt nur Leute ein, die
er sehr gut kennt."
    Ich musste eine Nummer ziehen und warten, bis diese
auf einem kleinen Bildschirm erschien. Die Menschen
neben mir warteten wie geduldige Patientinnen und
Patienten. Sie waren sauber gekleidet, hatten keine
Not, aber auch keine gute Laune. Warum waren sie in
keiner Bank und in keiner Versicherung untergekommen? Hatten sie nicht vergessen können, was
sie gelernt hatten? Ich betrat das Zimmer des Beraters.
Er sprang auf, als hätte ich ihn bei etwas Verbotenem
erwischt, und gab mir die Hand.
"Sie sind nicht von hier", stellte er fest. "Was hat Sie
denn hierher geführt?"
"Ich bin arbeitslos", antwortete ich, "aber nicht
arbeitsscheu. Tiere scheuen, Menschen aber fürchten
sich."
Er lachte nicht.
"Was haben Sie denn gelernt?", wollte er wissen.
"Ich war ein paar Wochen lang Produktionshelferin in
einer Lebkuchenfabrik."
    "Ich muss Ihnen doch nicht sagen, dass das kein
Beruf ist."
"Eigentlich bin ich blutiger Laie."
Erschrocken sah er an meinem Pullover herunter, als
suchte er darauf nach Blutflecken.
"Ich habe eine Zeit lang russische Literaturwissenschaft studiert. Gelernt habe ich eigentlich gar
nichts."
"Von der Sache her ist es positiv zu bewerten, dass Sie
das Studium nicht weitergeführt haben. In dieser Stadt
will faktisch niemand mehr Russisch lernen. Vor der
Wende waren 17000 russische Soldaten hier stationiert.
Sie werden hier trotzdem kein Arbeitslosengeld
bekommen, da müssen Sie schon zum Sozialamt
gehen."
Wenigstens stellte er mir einen Arbeitslosenausweis
aus, damit ich im Museum und im Schwimmbad nur
die Hälfte bezahlen musste. Zum Abschied stand er
wieder auf und gab mir die Hand. Ich verließ das
Zimmer ohne ein einziges Stellenangebot und setzte
mich auf einen der wenigen leeren Stühle. Was sollte
ich jetzt tun? Je länger ich auf meinem Stuhl sitzen
blieb, desto mehr Leute sah ich, die später
aufgestanden waren und sich einen Dreck um ihre
Ausstrahlung scherten. Mit der Bierdose in der Hand
und der brennenden Zigarette zwischen den Fingern
liefen sie herum. Sie zogen es vor, sich selber zu
Grunde zu richten, bevor es die Summe der
Demütigungen tat, denen sie ausgesetzt waren. Die
Bank schickt Briefe und sperrt das Konto. Die
Krankenkasse schickt Briefe und erhöht die Beiträge,
immer freundlich und in sauberer Maschinenschrift.
Der Vermieter schickt Briefe mit unterschiedlichen,
aber nie erfreulichen Nachrichten.
    Ich wollte heute nicht mehr zum Sozialamt gehen, weil
ich ahnte, dass dort keine bessere Stimmung herrschte.
Ich bat eine blonde, abgemagerte Frau neben mir um
Feuer. Sie roch nach Schnaps.
"Sind Sie schon lange arbeitslos?", fragte ich sie.
Sie winkte ab. "Wir haben doch keine Chance. Letztes
Mal wollten sie, dass ich als Fahrradkurier arbeite mit
meinen 50 Jahren." Sie sah nicht aus, als hätte sie die
ersten fünf Kilometer lebend überstanden.
"Sie sind krank. Warum gehen Sie nicht zum Arzt?"
"Weil der mir kein Geld gibt, kluges Kind."
Ich wollte ihr nicht weiter auf die Nerven gehen. Ihre
Augen waren bereits in einer anderen Welt.
    Ich versuchte, das Arbeitsamt zu verlassen, was nicht
leicht war, weil es im Viereck gebaut war und die
Gänge überall gleich aussahen. Ob die Irrwege durch
dieses Labyrinth von den Architekten geplant worden
waren? Als ich zum zweiten Mal aus Versehen in den
zweiten Stock gelangt war und zum zweiten Mal das
Schild mit dem Buchstaben L passiert hatte, hörte ich
den wütenden, beinahe jammernden Schrei einer alten
Frau.
"Tu dir dein Schal selber verzotteln, du Aas." Sie fing
an, zwei junge Männer auszuschimpfen, während sie
ihr Kopftuch zurecht band. "Ihr habt wohl nichts
Besseres vor, als die Leute zu ärgern. Wenn ihr nicht
arbeiten wollt, dann geht halt zum Militär, dann könnt
ihr euch selber verschießen."
    Außer mir hatten sich noch andere Menschen der Frau
zugewandt. Die Jungen grinsten dumm und
kümmerten sich nicht weiter um uns. Die Frau hatte
ihre Haare unter

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