Die namenlose Schoene
großen blauen Augen bildeten da keine Ausnahme.
Gertie Anderson stand an einem Wickeltisch und faltete Handtücher.
Als sie Tucker entdeckte, kam sie lächelnd zu ihm. Sie war Ende sechzig und hatte silbergraues Haar und braune Augen. Obwohl sie zierlich gebaut war, besaß sie mehr Energie als die meisten Jüngeren. Da sie gleich nebenan wohnte, half sie oft aus, wenn sie nicht gerade mit ihrem motorisierten Einkaufswagen in der Stadt unterwegs war. Sie hatte Tucker als Erste in Storkville willkommen geheißen und ihm eine Tasse Kaffee spendiert, während sie ihn über die Stadt und deren Einwohner informierte. Tucker hatte nicht lange gebraucht, um ihr goldenes Herz zu entdecken.
Gertie blieb vor ihm stehen. „Ist das ein beruflicher oder ein freundschaftlicher Besuch?”
„Beruflich und freundschaftlich”, erwiderte er. „Mit Ihnen habe ich hier nicht gerechnet bei dem vielen Besuch. Bleibt Ihre Familie bis Weihnachten?”
Gerties Blick verriet, dass er sich vorsichtiger hätte ausdrücken sollen.
„Stört Emma Sie schon?”
Das war eine Untertreibung. „Ich fürchte nur, dass es Gerüchte geben könnte.”
„Als Sie ihr die Unterkunft anboten, dachten Sie offenbar nicht daran.
Außerdem wissen alle in der Stadt, dass Sie so zuverlässig wie die Freiheitsstatue sind. Und es ist auch bekannt, dass Emma nirgendwo sonst unterkommt.” Gertie tätschelte ihm den Arm. „Ich kümmere mich um die Gerüchte. Es ist schon so lange her, dass meine Familie bei mir war, dass sie möglichst lange bleiben soll. Meine Schwestern, Nichten und Neffen unterhalten mich jeden Abend bis spät in die Nacht hinein. Es ist wunderbar, Tucker. Machen Sie sich keine Sorgen und genießen Sie es, Emma bei sich zu haben.”
„Vielleicht bleibt sie nicht mehr lange. Ich habe einen Anhaltspunkt gefunden.”
„Und welchen?”
„Mehr kann ich nicht sagen. Vorher muss ich mit Emma sprechen. Und wir müssen nach Omaha fahren. Können Sie hier auf sie verzichten?”
„Aber ja. Penny Sue kommt bald nach der Schule her. Gwen ist auch hier. Sie beaufsichtigt jetzt die schlafenden Kinder.” Penny Sue Lipton, fünfzehn, half nach der Schule in der Tagesstätte. Gwenyth Parker Crowe, Hannahs Cousine, war noch ziemlich neu in Storkville. Sie hatte erst vor wenigen Wochen Ben Crowe geheiratet.
Tucker blickte zu Emma, als er sie lachen hörte. Sie war schön, aber jung und verletzlich. Hannah bückte sich nach Sammy, der von der Decke gekrabbelt war. Als sie ihn packte, quietschte er, befreite sich und wollte zu Emma, auf deren Schoß Steffie sehr zufrieden saß.
„Ich habe so ein Gefühl bei Emma und den Zwillingen”, bemerkte Gertie.
„Was denn für ein Gefühl?” fragte Tucker.
Sie deutete auf die drei. „Hannah hat zwar vorübergehend die Vormundschaft, und sie kann auch gut mit den Kiemen umge hen. Sie müssen aber sehen, wie Sammy und Steffie bei Emma sind. Sie verhalten sich, als würden sie sich schon immer kennen. Emma kann zwar nicht die Mutter der beiden sein, aber da gibt es irgendeine Verbindung.”
„Ich weiß nicht, Tante Gertie. Falls mein Anhaltspunkt stimmt, sehe ich keine Verbindung. Vielleicht wissen wir heute Abend schon mehr.”
Tucker ging an großen Bällen und buntem Spielzeug vorbei. Am niedrigen Tisch saß eine von Hannahs Helferinnen mit einer Gruppe von Kindern. Er bemühte sich, nicht die lebhafte Unterhaltung und das Lachen zu hören. Kinder erinnerten ihn an Chad, und mit Chad waren unverzeihliche Fehler verbunden, die er begangen hatte.
Emma stand auf, als sie Tucker sah, und hob Steffie hoch. Sie trug eine lange rote Kordjacke und darunter einen weißen Pullover. Einen Teil des gelockten Haars hatte sie zum Pferdeschwanz gebunden, während der Rest seidenweich ihr Gesicht umspielte. Tucker hatte nicht vergessen, wie sie duftete. Er dachte an den Kuss, ihre weichen Lippen, die blassen Sommersprossen auf der Nase, ihre sanften Reize …
Hastig unterdrückte er die Gedanken, die ihn nachts und auch tagsüber viel zu oft ablenkten, blieb vor dem Quilt stehen und nickte Hannah zu. „Ich brauche Emma heute Nachmittag. Tante Gertie meint, dass Sie genug Helferinnen haben.”
„Aber sicher, heute sind alle hier.”
Steffie betrachtete Tucker neugierig. Vielleicht faszinierte sie sein Hut.
Als sie die Ärmchen nach ihm ausstreckte, wich er einen Schritt zurück.
„Tucker?” fragte Emma.
Mit großen blauen Augen sah ihn das kleine Mädchen flehend an, und er konnte nicht widerstehen. Er
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