Die Nebel von Avalon
brauchen unseren eigenen Führer, einen Mann, der über das ganze Land befehlen kann; sonst wird Britannien fallen, wenn sie sich gegen uns sammeln. Und für Hunderte und Aberhunderte von Jahren werden wir unter der Knechtschaft der sächsischen Barbaren leiden. Die Welten werden sich unwiderruflich voneinander trennen, und die Erinnerung an Avalon wird noch nicht einmal in Legenden weiterleben, um den Menschen Hoffnung zu geben.
Nein, wir müssen einen Führer haben, dem alle Völker in beiden Britannien Treue schwören… das Britannien der Priester und die Welt im Nebel, die von Avalon aus beherrscht wird. Vereint unter diesem Großen König…«, ihre Stimme erhob sich klar, erfüllt von dunkler Prophezeiung, »…werden die Welten wieder zusammenfinden zu einer Welt, in der Platz ist für die Göttin und für Christus, für den Kessel und das Kreuz. Dieser Führer wird uns einen.«
»Aber wo werden wir einen solchen König finden?« fragte Igraine. »Wer wird uns diesen Führer schenken?«
Und plötzlich fürchtete sie sich; ihr wurde eiskalt, als der Merlin und die Priesterin sich ihr zuwandten und sie ansahen. Ihre Augen schienen sie zu bannen wie der Schatten eines großen Falken einen kleinen Vogel. Und sie begriff, warum der Bote und Prophet der Druiden
der Merlin
genannt wurde. Als Viviane aber sprach, klang ihre Stimme sehr weich. Sie sagte: »Du, Igraine. Du sollst die Mutter dieses großen Königs sein.«
2
Schweigen herrschte im Raum. Nur das Feuer knisterte leise. Schließlich hörte Igraine, wie sie tief Luft holte, als sei sie gerade aus dem Schlaf erwacht. »Was sagst du da, Schwester? Meinst du, daß Gorlois der Vater dieses großen Königs sein wird?« Die Worte dröhnten und hallten in ihrem Kopf. Und sie wunderte sich, daß ihr nie in den Sinn gekommen war, das Schicksal könne etwas so Großes mit Gorlois vorhaben. Sie sah die Blicke, die ihre Schwester und der Merlin tauschten, und ihr entging auch nicht der kleine Wink, mit dem die Priesterin den alten Mann am Sprechen hinderte.
»Nein, Ehrwürdiger Merlin, dies muß von Frau zu Frau gesagt werden… Igraine, hör zu! Gorlois ist Römer, und die Stämme werden keinem Manne folgen, der Sohn eines Römers ist. Der Großkönig, dem sie gehorchen werden, muß ein Kind der Heiligen Insel sein, ein wahrer Sohn der Göttin. Ja, es wird dein Sohn sein, Igraine. Aber nicht die Stämme allein werden die Sachsen und die anderen wilden Völker aus dem Norden vertreiben. Wir werden die Unterstützung von Römern, Kelten und Kymren brauchen, und sie folgen nur ihrem eigenen Feldherrn, ihrem Pendragon. Sie folgen nur dem Sohn eines Mannes, dem sie vertrauen, der sie führt und über sie herrscht. Und auch das Alte Volk fordert den Sohn einer Mutter von königlichem Geblüt… deinen Sohn, Igraine… aber sein Vater wird Uther Pendragon sein.«
Igraine starrte die Schwester an; sie verstand, und langsam verdrängte der Zorn ihre Betäubung. »Nein!« schleuderte sie beiden entgegen, »ich habe einen Gemahl und habe ihm ein Kind geboren! Ich werde nicht zulassen, daß ihr mich noch einmal als Stein für eure Spiele benutzt. Ich habe geheiratet, wie du es mir befohlen hast… und du wirst nie wissen…« Die Worte blieben ihr im Halse stecken. Es war unmöglich, ihnen etwas über dieses erste Jahr zu erzählen… selbst Viviane würde es nie erfahren. Sie konnte sagen:
Ich fürchtete mich sehr,
oder
ich war allein und hatte schreckliche Angst,
oder
eine Vergewaltigung wäre leichter zu ertragen gewesen, denn danach hätte ich davonlaufen und sterben können…
aber all das wären nur Worte gewesen, die nur einen geringen Teil dessen vermitteln konnten, was sie damals empfand.
Hätte Viviane alles erfahren, hätte sie ihre Gedanken gelesen und um alles gewußt, was sie nicht aussprechen konnte, dann hätte die Schwester sie voll Mitgefühl und sogar mit leichtem Bedauern angesehen. Aber sie hätte ihre Absichten nicht geändert oder weniger von Igraine gefordert! Sie hatte ihre Schwester oft sagen hören, als Viviane noch glaubte, Igraine würde eine Priesterin der Großen Geheimnisse werden:
Wenn du versuchst, deinem Schicksal zu entgehen oder dein Leiden aufzuschieben, verurteilst du dich dazu, es in einem anderen Leben doppelt zu erfahren.
Deshalb sagte Igraine nichts von alldem. Sie funkelte Viviane nur mit dem unterdrückten Groll der letzten vier Jahre an, in denen sie tapfer und allein ihre Pflicht erfüllt und sich ihrem Schicksal unterworfen
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