Die Nebel von Avalon
und ihre Wirklichkeit. Vor langer Zeit, als die ersten Anhänger Christi auf unsere Insel kamen, da wußte ich, daß dies der Wendepunkt der Zeit war – ein Augenblick in ihrem Lauf, der die Welt verändern würde.«
Morgause sah ehrfürchtig und mit weit geöffneten Augen zu dem alten Mann auf. »Seid Ihr so alt, Ehrwürdiger Vater?«
Der Merlin lächelte zu dem Mädchen hinunter und erwiderte: »Mein Körper nicht. Aber ich habe sehr viel in der Großen Halle gelesen, die nicht in dieser Welt ist, und dort ist alles aufgeschrieben. Außerdem
lebte
ich damals. Die Herren dieser anderen Welt erlaubten mir zurückzukehren, aber in einem anderen Körper.«
»Was Ihr da sagt, ist für ein kleines Mädchen unverständlich, Ehrwürdiger Vater«, warf Viviane mit sanftem Tadel ein. »Sie ist keine Priesterin. Kleine Schwester, der Merlin will damit sagen, daß er schon lebte, als die ersten Christen kamen. Und als er starb, entschied er sich – und es wurde ihm gewährt – wieder auf die Erde zu kommen, um sein Werk hier zu vollenden. Dies sind Mysterien, die du aber nicht verstehen mußt. Sprecht weiter, Vater.«
»Ich wußte, es war einer jener Augenblicke, die die Geschichte der gesamten Menschheit verändern«, sagte der Merlin. »Die Christen versuchen, alles Wissen mit Ausnahme ihres eigenen auszulöschen. Und in diesem Bemühen verbannen sie aus der Welt alle Formen des Mysteriums, die nicht mit ihren Glaubensvorstellungen übereinstimmen. Sie haben verkündet, es sei Ketzerei zu sagen, der Mensch lebe mehr als ein Leben… und dabei weiß jeder Bauer, daß es so ist…«
»Aber wenn die Menschen nur an ein einziges Leben glauben«, erwiderte Igraine fassungslos, »wie sollen sie dann der Verzweiflung entgehen? Welcher gerechte Gott könnte einen Menschen bitter arm machen und einen anderen glücklich und reich, wenn es nur
ein
Leben für sie gäbe?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete der Merlin. »Vielleicht wollen sie, daß die Menschen an der Härte des Schicksals verzweifeln, damit sie auf den Knien zu Christus kommen, der sie in den Himmel aufnimmt. Ich weiß nicht, was die Anhänger Christi glauben, oder was sie sich erhoffen.« Er schloß einen Moment lang die Augen, und sein Gesicht wirkte bitter. »Aber was immer sie glauben, die Ansichten, die sie vertreten, verändern die Welt. Nicht nur im Geistigen, sondern auch im Materiellen. Da sie das Reich des Geistes und das Reich von Avalon leugnen, entschwinden ihnen beide. Natürlich sind sie noch immer da, aber nicht länger in der Welt, in der die Anhänger Christi leben. Avalon, die Heilige Insel, ist nicht mehr dieselbe Insel wie das Glastonbury, wo wir vom Alten Glauben vor langer Zeit den Mönchen erlaubten, ihre Kapelle und ihr Kloster zu errichten. Denn unsere Weisheit und ihre Weisheit, unser Wissen und ihr Wissen… wieviel weißt du über die Naturphilosophie, Igraine?«
»Leider sehr wenig«, erwiderte die junge Frau und blickte tiefbewegt auf die Priesterin und den großen Druiden. »Ich habe mich darum nie bemüht.«
»Wie schade«, antwortete der Merlin, »denn du mußt es verstehen, Igraine. Aber ich will es einfach für dich machen. Sieh her.« Mit diesen Worten nahm er den goldenen Ring von seinem Hals und zog den Dolch. »Kann ich das Gold und die Bronze gleichzeitig auf dieselbe Stelle legen?«
Igraine sah ihn ratlos an. Sie verstand nicht. »Nein, natürlich nicht. Sie können nebeneinander liegen, aber nicht auf derselben Stelle. Es sei denn, Ihr verschiebt das eine zuerst.«
»Und so ist es auch mit der Heiligen Insel«, erklärte der Merlin. »Vor vierhundert Jahren schworen die Priester uns einen Eid… noch ehe die Römer hierherkamen und versuchten, unser Land zu erobern. Sie schworen, sich nie gegen uns zu erheben und uns mit Waffengewalt zu vertreiben. Denn wir waren vor ihnen da; sie kamen damals als Bittsteller, und sie waren schwach. Sie haben den Schwur nicht gebrochen… das muß ich ihnen zugute halten. Aber im Geist, in ihren Gebeten haben sie nie aufgehört, gegen uns zu kämpfen. Denn ihr Gott soll unsere Götter vertreiben; ihr Wissen soll über unsere Weisheit herrschen.
In unserer Welt, Igraine, ist Platz für viele Götter und viele Göttinnen. Aber in der Welt der Christen… wie soll ich es sagen?… ist kein Platz für unser Wissen oder unsere Weisheit. In ihrer Welt gibt es nur einen Gott. Er muß nicht nur alle anderen Götter besiegen, er muß auch so tun, als gäbe es keine anderen Götter, ja,
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