Die Nebel von Avalon
ein Opfer, das für die Mutter vergossen wurde, damit das Leben trinken konnte… doch dann sprudelte das Blut des Königshirschs in einem Schwall über ihn, als seine Klinge das Herz fand. Die Männer stürzten mit ihren Speeren herbei…
Morgaine sah, wie man ihn davontrug… rot vom Blut seines Zwillings und Rivalen, dem Königshirsch. Die Messer der kleinen dunklen Männer blitzten auf. Sie legten dem Gehörnten das blutige warme Fell um die Schultern. Im Triumphzug kehrten sie zurück. Feuer flammten in der Dämmerung auf. Und als die Frauen Morgaine hochhoben, sah sie, ohne überrascht zu sein, daß die Sonne unterging.
Sie taumelte, als sei auch sie den ganzen Tag lang mit den Männern und den Hirschen gelaufen. Man krönte sie noch einmal mit dem Rot
des Sieges. Man brachte den Gehörnten blutend zu ihr. Sie segnete ihn und zeichnete seine Stirn mit dem Hirschblut. Der Kopf mit dem Geweih, das den nächsten Königshirsch zur Strecke bringen sollte, wurde weggetragen. Das Geweih des Gehörnten war zersplittert und geborsten und wurde ins Feuer geworfen. Bald verbreitete sich der Geruch verbrannten Fleisches.
Morgaine fragte sich, ob es von Mann oder Tier war… Man setzte sie nebeneinander und brachte ihnen das erste Stück, aus dem noch Blut und Fett tropften. Morgaine spürte, wie alles vor ihr verschwamm. Fettes Fleisch war nichts für sie nach dem langen Fasten. Einen Augenblick lang war ihr, als müsse sie sich übergeben. Er saß neben ihr und aß hungrig. Im Schein des Feuers sah sie seine wohlgeformten, starken Hände… sie schloß die Augen, öffnete sie wieder und sah in einem merkwürdigen Augenblick doppelten Sehens Schlangen, die sich um seine Handgelenke wanden. Dann waren sie wieder verschwunden. Die Männer und Frauen des Stammes begannen, das rituelle Fest zu feiern. Sie sangen die Siegeshymne in der Alten Sprache, die Morgaine nur halb verstand:
»Er hat gesiegt, er hat getötet… … die Erde wird mit dem Blut unserer Mutter getränkt… … die Erde wird mit dem Blut des Gottes besprengt… … er wird erscheinen und ewig herrschen… … er hat gesiegt, er wird siegreich sein, bis ans Ende der Welt…«
Die alte Priesterin, die Morgaine am Morgen bemalt und geschmückt hatte, hielt ihr einen silbernen Becher an die Lippen. Sie spürte, wie das scharfe Getränk brennend durch ihre Kehle floß… Feuer und dahinter der bittersüße Geschmack des Honigs. Das blutige Fleisch hatte sie bereits trunken gemacht… in den letzten sieben Jahren hatte sie nur ab und an Fleisch gegessen. Alles verschwamm, als man sie davontrug, entkleidete und ihren nackten Körper mit neuen Farben und Gewinden schmückte; die Augenbrauen und die Knospen ihrer Brüste wurden mit dem Blut des erlegten Hirsches bemalt.
Die Göttin empfängt ihren Gefährten. Und sie wird ihn am Ende der Zeit wieder töten. Sie wird ihren dunklen Sohn gebären, der den Königshirsch fällen wird…
Ein kleines Mädchen, von Kopf bis Fuß blau bemalt, rannte mit einem großen Teller über die gepflügten Felder und besprengte die Erde mit dunklen Tropfen. Morgaine hörte ein gewaltiges Rufen, das sich hinter ihr erhob.
»Die Felder sind gesegnet! Gib uns Nahrung, Mutter!«
Einen winzigen Augenblick lang flüsterte eine Stimme in Morgaine, die benommen, trunken und nur halb in ihrem Körper weilte:
Du bist verrückt. Du, eine gut unterrichtete und gebildete Frau, eine Prinzessin und Priesterin aus dem königlichen Geschlecht von Avalon, erzogen in der Weisheit der Druiden, du liegst hier bemalt wie eine Wilde herum, stinkst nach frischem Blut und erduldest diesen barbarischen Mummenschanz…
…
dann war alles vorüber. Der Vollmond stieg majestätisch und stolz aus den Wolken auf, die ihn verdeckt hatten. Vom Glanz geblendet, spürte sie, wie das Licht der Göttin auf ihren Körper fiel und durch ihn hindurchströmte… sie war nicht mehr Morgaine. Sie war namenlos, Priesterin und Jungfrau und Mutter… Man schlang ein Gewinde aus roten Beeren um ihre Lenden, und sie fühlte, wie die Schwere ihrer Scham sie wie das Frühlingsfluten in die Tiefe zog. Eine Fackel flammte vor ihr auf. Man führte sie in die finstere Dunkelheit, wo das Echo des Schweigens alles umgab – in eine Höhle. Die Wände, die um sie herum in die Höhe wuchsen, trugen die Heiligen Zeichen, die seit Anbeginn der Zeit auf den Fels gemalt wurden: der Hirsch und das Geweih, der Mann mit dem Gehörn auf der Stirn, der gewölbte Leib und die vollen Brüste der
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