Die Nebel von Avalon
hinunter, wogten, wie von den Fluten des Frühlings getragen, zu Tal. Morgaine spürte, wie die Macht von ihr wich und brach zusammen. Still lag sie auf der Erde und spürte, wie die feuchte Kälte ihren Körper durchdrang. Aber die Trance des Gesichts nahm ihr das Bewußtsein. Wie leblos lag Morgaine am Boden. Doch ein Teil von ihr begleitete die anderen, rannte mit ihnen den Abhang hinunter, sprang mit den Männern des Stammes hinter dem Gehörnten her. Bellende Rufe folgten ihnen, als seien sie Hunde, und etwas in Morgaine erkannte, daß es die Frauen waren, die die Jagenden mit Rufen antrieben.
Die Sonne stieg höher; das Große Rad des Lebens kreiste am Himmel und eilte vergebens dem dunklen Gefährten, dem Dunklen Sohn hinterher…
Das Leben der Erde, die reißenden Ströme des Frühlings, schäumten in den schier berstenden Herzen der rennenden Männer. Und wie die Ebbe nach der Flut schloß sich die Dunkelheit des Waldes über ihnen, verschluckte sie. Sie rannten nicht mehr, sondern liefen geschwind und geräuschlos mit den federnden Schritten der Hirsche; sie
waren
die Hirsche, die dem Gehörnten folgten. Sie trugen die Umhänge, die die Hirsche bannten. Die Halsketten standen für das Leben, eine endlose Kette: Leben und sich ernähren, gebären und sterben, selbst gegessen werden, um die Kinder der Mutter zu nähren.
… Mutter, schütze deine Kinder. Dein Königshirsch muß sterben, um das Leben deines Dunklen Sohnes zu bewahren…
Dunkelheit, das verborgene Leben des Waldes umgab sie. Schweigen … das Schweigen der Hirsche… Morgaine nahm jetzt den Wald als Leben wahr und die Hirsche als das Herz des Waldes. Sie gab ihre Macht und den Segen dem Wald.
Ein Teil von ihr lag erschöpft auf dem sonnenbeschienenen Abhang in Trance und ließ sich vom Leben der Sonne durchtränken – Körper, Seele und innerstes Wesen. Ein anderer Teil aber rannte mit den Hirschen und den Männern, bis sie eins waren… miteinander verschmolzen… die Lebensströme der ruhenden Hirsche im Dickicht, der kleinen, schlanken Hirschkälber, in denen das Leben pulsierte wie in ihrem Körper, vereinten sich mit den Lebensströmen der Männer, die lautlos und wachsam durch den Schatten glitten…
Morgaine fühlte, wie irgendwo im Wald der Königshirsch den Kopf hochwarf, in den Wind schnupperte und die Witterung eines Feindes aufnahm, einer der Seinen, einer des fremden Lebens… sie wußte nicht, ob es der vierbeinige Königshirsch war oder der zweibeinige, den sie gesegnet hatte. Im Leben der Mutter Erde waren sie eins. Ihr Schicksal lag in der Hand der Göttin. Ein zweites Geweih hob sich, der witternde Atem nahm das Leben des Waldes in sich auf, suchte das Fremde, die Beute, den Räuber, den Rivalen, den es nicht geben konnte.
Ah, Göttin
… sie stoben dahin, brachen durch das Unterholz. Die flinken Männer folgten ihnen… nur leiser, sie rannten und rannten … Rennen, bis das Herz wie rasend klopft und die Brust zu zerspringen scheint… Rennen, bis das Leben des Körpers alles Wissen und jeden Gedanken auslöscht… dahinjagen… suchen und gesucht werden… mit den Hirschen rennen, die fliehen und den Männern, die sie jagen… rennen mit dem kreisenden Leben der großen Sonne auf den aufschießenden Wogen des Frühlings… rennen mit dem Fluß des Lebens…
Morgaine lag immer noch bewegungslos, das Gesicht auf die Erde gepreßt. Die Strahlen der Sonne brannten auf ihrem Rücken. Die Zeit raste und schlich dann wieder dahin. Morgaine sah… und es schien ihr, daß sie solches schon einmal gesehen hatte in einer Vision – irgendwann, irgendwo, vor langer Zeit… wie der große sehnige Mann mit dem Messer in der Hand stürzte. Er fiel zwischen die Hirsche, zwischen die stampfenden Hufe… Morgaine erkannte nun alles, sie schrie auf und wußte gleichzeitig, daß der Schrei alles durchdrang und selbst der Königshirsch den tödlichen Angriff verhielt.
Einen Augenblick lang schien alles stillzustehen. Und in diesem kurzen Schweigen sah sie, wie sich der große sehnige Mann keuchend aufrichtete, auf die Füße sprang und mit gesenktem Kopf vorwärtsstürmte. Er stieß das Geweih gegen den Hirsch, verhakte sich. Er schwankte und kämpfte, klammerte sich mit seinen starken Händen und seinem jungen Körper an das Tier… ein Messer blitzte auf. Blut strömte auf die Erde, und auch er blutete, der Gehörnte… Blut rann über seine Hände, Blut aus einer klaffenden Wunde in seiner Seite… Sein Blut floß auf die Erde –
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