Die Nebel von Avalon
herrscht. Wenn die Feinde von unseren Küsten abziehen, beginnen seine Freunde sich zu streiten… und sei es nur um seine Gunst. Nein, für mich wird es keine Krone geben. Und wenn du so alt bist wie ich, wirst du froh darüber sein.«
Igraine spürte ein Prickeln hinter den Ohren, während Gorlois sprach. Dieser harte Soldat, dieser düstere Mann, den sie gefürchtet hatte, fand nun das Vertrauen, ihr etwas von seinen Wünschen zu enthüllen. Sie hoffte aus ganzem Herzen, ihm würden seine letzten Jahre in der Sonne, umgeben von seinen Kindern, gegönnt sein. Aber selbst jetzt glaubte Igraine im Flackern des Feuers den drohenden Schatten zu erkennen, der über ihm lag.
Es ist meine Einbildung! Die Worte des Merlin verführen mich, solche närrischen Dinge zu denken,
sagte sie sich. Und als Gorlois gähnte, sich streckte und sagte, er sei müde vom Reiten, half sie ihm schnell, die Kleider abzulegen. Igraine schlief kaum in dem fremden Bett und warf sich unruhig hin und her, während sie den gleichmäßigen Atem des Mannes neben sich hörte. Hin und wieder griff er im Schlaf nach ihr. Und sie drückte ihn an ihre Brust, wie sie es mit einem Kind getan hätte.
Vielleicht,
dachte sie,
fürchten der Merlin und die Herrin ihre eigenen Schatten. Vielleicht bleibt Gorlois doch noch Zeit genug, um in der Sonne alt zu werden.
Vielleicht hatte er vor dem Einschlafen tatsächlich den Sohn in ihrem Leib gezeugt, den er, wie die beiden gesagt hatten, nie haben würde. Erst gegen Morgen fiel sie in einen unruhigen Schlaf.
Sie träumte von einer Welt im Nebel und sah, wie die Ufer der Heiligen Insel weiter und weiter im Dunst versanken. Sie selbst schien mühsam und erschöpft eine Barke zu rudern und die Insel Avalon zu suchen, wo die Göttin mit Vivianes Antlitz sie erwartete, um sie zu fragen:
Wie gut hast du deine Aufgabe erfüllt?
Aber – obwohl das Ufer und die Apfelbäume vertraut wirkten, die am Wasser wuchsen – stand da im Traum ein Kruzifix im Tempel, und der Chor der schwarzgekleideten Nonnen sang eine ihrer klagenden Hymnen.
Igraine begann zu laufen. Sie suchte überall nach ihrer Schwester, doch Glockenklang übertönte ihr Rufen. Sie erwachte mit einem unterdrückten Wimmern, dem Aufschrei einer Schlafenden, richtete sich schnell auf und hörte von überall her das Geläut der Kirchenglocken.
Gorlois setzte sich neben ihr auf. »Die Glocken der Kirche läuten, in der Ambrosius die Messe hört. Beeilt Euch beim Anziehen, Igraine, dann können wir gemeinsam zum Gottesdienst gehen.«
Während sie einen gewebten Seidengürtel um ihren Überwurf aus Leinen band, klopfte es an der Tür. Ein fremder Diener wollte die Gemahlin des Herzogs von Cornwall sprechen. Igraine ging zur Tür. Sie glaubte, den Mann zu kennen, der sich vor ihr verbeugte, und dann erinnerte sie sich. Vor Jahren hatte sie ihn gesehen, als er Vivianes Barke ruderte. Der Traum fiel ihr wieder ein, und sie spürte, wie Kälte in ihr aufstieg.
»Eure Schwester sendet Euch dies vom Merlin«, begann er zu sprechen, »sie bittet Euch, es zu tragen und Euer Versprechen nicht zu vergessen.« Er übergab ihr ein kleines, in Seide gewickeltes Paket.
»Was ist da drinnen, Igraine?« fragte Gorlois stirnrunzelnd und trat zu ihr. »Wer läßt Euch Geschenke überbringen? Kennt Ihr den Boten?«
»Er steht im Dienst meiner Schwester und kommt von der Insel Avalon«, antwortete Igraine und begann das Päckchen auszuwickeln.
Aber Gorlois sagte streng: »Meine Gemahlin nimmt keine Geschenke von Boten entgegen, die ich nicht kenne«, und nahm es ihr aus der Hand. Empört öffnete sie den Mund, um zu widersprechen, und all ihre neuen zärtlichen Gefühle für Gorlois verschwanden mit einem Atemzug. Wie konnte er es wagen!
»Oh, es ist der blaue Stein, den Ihr getragen habt, als wir heirateten«, sagte Gorlois stirnrunzelnd. »Was habt Ihr denn versprochen? Wie kommt Eure Schwester zu dem Stein, wenn sie es wirklich ist, die ihn Euch schickt?«
Geistesgegenwärtig belog ihn Igraine zum ersten Mal in ihrer Ehe vorsätzlich: »Als meine Schwester mich besuchte«, antwortete sie, »gab ich ihr den Stein und die Kette, um den Verschluß zu erneuern. Sie kennt einen Goldschmied in Avalon, der um vieles besser ist als die Goldschmiede in Cornwall. Und das Versprechen… ich habe gelobt, besser auf meinen Schmuck aufzupassen, denn jetzt bin ich eine erwachsene Frau und kein unvernünftiges Kind mehr, das nicht versteht, mit kostbaren Dingen umzugehen. Darf ich das
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