Die Eule - Niederrhein-Krimi
Prolog
Am 24. Mai 1960 ging die Sonne um vier Uhr zwölf über Dresden auf. Sie durchbrach den Nebel, der die Wälder und Wiesen des Umlandes zart bedeckte, in weichen Ringen um vier Uhr vierunddreißig. Der wattige orange Farbton, der sich über die Landschaft ergoss und von einer Morgenromanze erzählte, stand im krassen Gegensatz zu den zackigen Befehlstönen, die sich an den Mauern des Hofes der Hinrichtungsstätte brachen.
Die Wachmänner trieben einen kraftlos schlurfenden Mann in grauer Gefangenenkleidung, dessen fahle Hautfarbe es schwer machte, zu schätzen, ob er eher an die vierzig oder fünfzig Jahre alt war, über den Platz. Niemand weiß, was er in diesem Augenblick und in der kaum nachzuspürenden Verlassenheit seiner letzten Stunden zuvor empfand. Hat er sein Leben Revue passieren lassen, hat er seinen Verräter verflucht, der ihn erst in das Stasiuntersuchungsgefängnis in direkter Nachbarschaft des Domplatzes in Erfurt und dann in die Zentralanstalt für Abgeurteilte brachte? War er zu keiner Empfindung mehr fähig und ein lebender Leichnam in der vergangenen Nacht, die schon wie aus Blei war?
Willenlos ließ er sich jedenfalls schieben und ziehen, als ihn die Schergen zwischen Nacht und Morgen auf das Schafott zwangen. Die schräge Schneide der Fallschwertmaschine aus volkseigener Produktion fiel präzise und trennte ihm den Kopf zwischen dem vierten und fünften Wirbel vom Rumpf. Sonst arbeiteten die Antifaschisten in der DDR ungeniert mit den vorhandenen Naziguillotinen, an diesem Morgen aber war der Henker sehr zufrieden mit dem Einsatz der ersten volkseigenen Konstruktion.
Die Richtstätte schwamm im Blut, das sich in pulsierenden Schüben auf den Boden ergoss. »Vollstreckungsdauer: drei Sekunden, besondere Vorkommnisse: keine«, würde später der führende Offizier Dirk Unterhagen im Protokoll verzeichnen.
Die Sonne durchbrach den Morgennebel vollends und tauchte den Gefängnishof in merkwürdig barmherziges Licht, als wolle sie Trost spenden. Doch da waren die ebenso ungläubig wie entsetzt aufgerissenen Augen des an Händen und Füßen gefesselten Opfers. Sein finales Röcheln, seine gebrochenen Pupillen. Der klaffende Schnitt, der qualvolle Blick und über allem dieser unerträgliche Geruch von Angst. Henker Walter Böttcher hatte gelernt, sein Herz durch einen unbewussten Verdrängungsmechanismus kaltzustellen und sich mit der Routine des Scharfrichters an seine Arbeit zu machen. An diesem sonnig-linden Frühlingstag, an dem die Temperatur 19,5 Grad erreichen sollte, verließ der gelernte, ernst dreinblickende Schmied den von unüberwindlich hohen Mauern umschlossenen Hof, um im Erdgeschoss des labyrinthischen Baus zwei weitere Gefangene zu enthaupten.
Als wäre das Entsetzen noch zu steigern, legten die Gehilfen den vom Körper abgetrennten Kopf beim Einsargen zwischen die Beine des getöteten Delinquenten. Für sie war das praktischer und zeitsparender, denn eine spezielle Ofenmannschaft wartete in dem von Kiefern umstandenen Krematorium im nahen Tolkewitz auf den Leib des geköpften Mannes mit der fahlen Gesichtshaut. Die bürokratische Regelung der geheimen Kommandosache verlangte, das »Abköpfen« und Verbrennen binnen Stunden abzuschließen. Offizier Unterhagen zeichnete befriedigt die für den Zeitablauf vorgesehenen Sparten des Protokollbuchs ab und merkte sich vor, eine Zulage nebst extra freiem Tag für den Henker zu beantragen. Der Mann hatte schließlich Familie, und sie alle waren darauf angewiesen, diesen heiklen und geheimen Fall effektiv und ohne Aufsehen zu Ende zu bringen.
Ins Einäscherungsbuch trug man ein, dass der überstellte Leichnam eines in Erfurt verhafteten und in Dresden geköpften Mannes unter der laufenden Nummer 144080 um sieben Uhr fünfundvierzig verbrannt wurde. Mit roter Tinte wurde vermerkt: »Po –Polizeiliche Zuführung«. Am 26. Mai 1960 beurkundete das Standesamt III den »Sterbefall 127/60« mit der Todesursache Myokardinfarkt. Der vorgebliche Herzinfarkt war genauso falsch, wie Alter, Name, Beruf und Adresse im Protokollbuch gefälscht waren. Urne 553 verschwand in Feld IV des anonymen Gräberfeldes.
Die Vertuschungsmaschine lief perfekt, bis Offizier Unterhagen die repräsentative Eingangstür zur Stasizentrale an der Erfurter Andreasstraße durchschritt, sich auswies und umgehend in das Kasino zum Empfang ging, bei dem er für ehrenvolle Verdienste ausgezeichnet wurde. Seine Fähigkeit, schwierige Missionen durchzuführen, wurde
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