Die Nebel von Avalon
sagte sie und blickte dem Mädchen in die ängstlichen Augen, »du mußt ihn verführen und auf dein Lager locken. Du mußt ihn so verzaubern, daß er mit Leib und Seele dein Sklave wird.«
»Und dann…?« fragte Nimue zitternd, »was dann? Muß ich ihn töten?«
Morgaine wollte antworten. Aber Niniane kam ihr zuvor. »Ein Tod von deiner Hand käme zu schnell für einen solchen Verräter. Du mußt
ihn in deinem Bann gefesselt nach Avalon bringen, Nimue. Er soll den schändlichen Tod des Verräters im Eichenhain erleiden.«
Morgaine erschauerte, denn sie wußte, welches Schicksal Kevin nun erwartete. Man würde ihm bei lebendigem Leib die Haut abziehen und ihn in eine gespaltene Eiche klemmen. Die Öffnung wurde dann mit Lehm und Zweigen so weit geschlossen, daß er gerade noch atmen konnte. Verräter durften nicht zu schnell sterben… Morgaine senkte den Kopf und versuchte, ihr Entsetzen zu verbergen. Die blendende Sonne war über das Wasser hinweggewandert, und am Himmel standen blasse Morgenwolken. Niniane sagte: »Unser Werk hier ist getan. Kommt, Mutter…« Aber Morgaine machte sich von ihr los.
»Nein, es ist noch nicht vollbracht… erst wenn ich aus Camelot zurück bin. Ich muß herausfinden, was der Verräter mit den Heiligen Insignien im Sinn hat.« Morgaine seufzte. Sie hatte gehofft, Avalon nie mehr verlassen zu müssen. Aber niemand außer ihr konnte diese Aufgabe bewältigen.
Raven streckte die Hand aus. Sie zitterte am ganzen Körper, und Morgaine glaubte, sie würde zu Boden stürzen. Es klang wie ein entferntes Zischen oder wie der Wind, der in den toten Blättern raschelt, als sie flüsterte: »Auch ich muß gehen… Es ist mein Schicksal. Ich soll nicht im geweihten Boden liegen, wo alle ruhen, die vor mir kamen… Ich werde dich begleiten, Morgaine.«
»Nein, nein, Raven«, widersprach Morgaine heftig. »Du nicht, du nicht!«
Raven hatte Avalon seit fünfzig Jahren nicht verlassen. Sie würde eine solche Reise nicht überleben. Aber so sehr Morgaine sich auch bemühte, sie konnte Raven nicht umstimmen. Von Grauen geschüttelt, beharrte sie mit aller Entschlossenheit darauf: »Ich habe meine Bestimmung gesehen, und ich muß Morgaine um jeden Preis begleiten!«
»Aber ich reise nicht, wie Niniane reisen würde, in der prächtigen Sänfte von Avalon. Ich komme nicht mit dem Prunk einer Herrin von Avalon nach Camelot«, redete sie auf Raven ein. »Ich verkleide mich als alte Bäuerin, wie Viviane in späteren Jahren es oft tat.« Aber Raven schüttelte nur den Kopf und wiederholte: »Jede Straße, die du gehst, Morgaine, kann ich ebenfalls beschreiten.«
Morgaine konnte die tödliche Furcht, die sie nicht für sich, sondern für Raven empfand, nicht abschütteln. Aber schließlich erklärte sie: »So sei es«, und die Frauen bereiteten sich auf die Abreise vor. Stunden später verließen sie Avalon auf geheimen Wegen. Nimue reiste standesgemäß als Nichte der Königin und ritt auf der Hauptstraße. Morgaine und Raven gingen als Bettlerinnen verkleidet auf Nebenwegen und verborgenen Pfaden zu Fuß nach Camelot. Morgaine staunte über Ravens Stärke. Während sie Tag um Tag langsam durch das Land zogen, schien sie manchmal ausdauernder zu sein als Morgaine. Sie erbettelten sich in Bauernhäusern etwas Fleisch, nahmen sich ein Stück Brot, das man einem Hund hingeworfen hatte, übernachteten einmal in einem verlassenen Landhaus und einmal in einem Heuhaufen. In dieser letzten Nacht vor Camelot brach Raven zum ersten Mal ihr Schweigen.
»Morgaine«, sagte sie, als beide Seite an Seite, in ihre Mäntel gehüllt, im Heu lagen. »Morgen ist Ostern in Camelot. Wir müssen bei Sonnenaufgang dort sein.«
Morgaine hätte sie gerne nach den Gründen dafür gefragt. Aber sie wußte, Raven konnte ihr nicht antworten – sie hatte nur gesehen, was ihr das Schicksal auferlegte. Deshalb erwiderte Morgaine: »Dann werden wir noch vor dem Morgengrauen aufbrechen. Wir können Camelot in ungefähr einer Stunde erreichen… hättest du es mir früher gesagt, Raven, wären wir heute noch bis Camelot weitergegangen und hätten uns dort einen Schlafplatz gesucht.«
»Ich konnte nicht«, flüsterte Raven, »ich fürchtete mich.« Morgaine bemerkte, daß ihre Gefährtin in der Dunkelheit weinte. »Ich fürchte mich so sehr, Morgaine. Ich fürchte mich so sehr!«
Morgaine erwiderte barsch: »Ich habe dir gesagt, du sollst in Avalon bleiben.«
»Aber ich muß tun, was die Göttin mir befiehlt«, flüsterte
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