Die Nebel von Avalon
zwitscherten leise in den Bäumen. Das sanfte Plätschern des Wassers, das aus der Quelle in den Teich floß und die Oberfläche kräuselte, war das einzige andere Geräusch. An den Hängen unter ihnen sah Morgaine die weißen Blütenblätter der sturmzerzausten Obstgärten und hoch über ihnen die fahlen Schatten der Ringsteine auf dem Berg. Schweigen. Schließlich regte sich Nimue und flüsterte: »Ich kann sein Gesicht nicht erkennen…« Das Wasser kräuselte sich, und Morgaine glaubte, eine gekrümmte Gestalt zu sehen, die sich mühsam und wie gehetzt vorwärtsschleppte… Sie sah den Raum, in dem sie damals schweigend hinter Viviane gestanden hatte, als Taliesin Excalibur in Artus' Hände legte, und sie hörte seine mahnende Stimme… »Nein… wer die Heiligen Insignien unvorbereitet berührt, muß sterben…«
Einen Augenblick lang hörte Morgaine nicht Nimue, sondern Taliesin… Aber Kevin besaß das Recht, er war der Merlin von Britannien. Er nahm aus dem geheimen Versteck den Speer, den Kelch und die Schale. Er verbarg die Heiligen Dinge unter seinem Mantel, verließ den Raum und ging über den See, wo Excalibur am Ufer in der Dunkelheit schimmerte… Die Heiligen Insignien waren wieder vereint.
»Der Merlin!« flüsterte Niniane. »Aber weshalb?«
Morgaine antwortete mit versteinertem Gesicht: »Einmal hat er mit mir darüber gesprochen. Er sagte, Avalon liegt jetzt außerhalb der Welt, und die Heiligen Dinge müssen zum Wohl der Menschen und der Götter in der Welt bleiben, gleichgültig unter welchem Namen die Menschen die Götter anbeten…«
»Er entweiht sie!« erklärte Niniane aufgebracht, »und stellt sie in den Dienst des Gottes, der alle unsere Götter vertreiben möchte…« Durch das Schweigen hindurch hörte Morgaine den Gesang der Mönche. Dann fiel das erste Sonnenlicht auf den Spiegel und verwandelte ihn in blendendes Feuer, das ihnen in Kopf und Augen brannte. In den Strahlen der aufgehenden Sonne schien die ganze Welt im Schein eines flammenden Kreuzes zu brennen… Morgaine schloß die Augen und bedeckte das Gesicht mit den Händen.
»Laß sie ziehen, Morgaine«, flüsterte Raven. »Die Göttin wird beschützen, was ihr gehört…«
Wieder hörte Morgaine die singenden Mönche –
Kyrie eleison, Christe eleison… Gott erbarme dich unser, Christus erbarme dich unser…
Die Heiligen Insignien waren Symbole. Die Göttin hatte dies sicher nur geschehen lassen zum Zeichen, daß Avalon diese Dinge nicht mehr brauchte. Sie sollten in die Welt hinaus und im Dienst der Menschen stehen…
Das flammende Kreuz loderte immer noch vor Morgaines Augen, und sie wendete sich ab. »Selbst ich kann den Schwur des Merlin nicht lösen. Er hat den Heiligen Eid geschworen und anstelle des Königs die
Große Ehe mit dem Land geschlossen. Er ist eidbrüchig geworden und hat sein Leben verwirkt. Aber ehe ich mich dem Verräter zuwende, muß ich mich dem Verrat zuwenden. Die Insignien müssen nach Avalon zurückkehren, und wenn ich sie mit eigenen Händen hierherbringen muß. Ich werde sofort nach Camelot aufbrechen.«
Sie sah ihren Plan vor sich, als Nimue flüsterte: »Muß ich Euch begleiten? Ist es meine Aufgabe, die Göttin zu rächen?«
Morgaine mußte die Heiligen Insignien retten. Sie oblagen ihrer Sorge. Hätte sie ihren Platz eingenommen, anstatt in Trauer zu verharren und nur an ihren eigenen Trost zu denken, wäre das nie geschehen. Aber Nimue würde das Mittel sein, um den Verräter zu bestrafen.
Kevin hatte Nimue nie gesehen. Der Merlin sah niemals die Frauen, die in Abgeschlossenheit und Schweigen in Avalon lebten. Wie immer, wenn die Göttin einen Menschen bestrafte, so sollte auch der Merlin sich selbst durch seine eigene Schwäche zu Fall bringen. Morgaine ballte die Fäuste und sagte langsam – wie konnte sie je Mitleid mit diesem Verräter empfunden haben? -: »Du begleitest mich nach Camelot, Nimue. Du bist eine Nichte der Königin und Lancelots Tochter. Du wirst sie bitten, dich als eine ihrer Hofdamen aufzunehmen. Bitte sie, selbst vor dem König geheimzuhalten, daß du in Avalon gelebt hast. Wenn es sein muß, gib sogar vor, du seist Christin geworden. Dort wirst du dem Merlin begegnen. Er hat eine große Schwäche. Er glaubt, die Frauen meiden ihn, weil er häßlich und verstümmelt ist. Einer Frau, die weder Abneigung noch Furcht vor ihm zeigt, einer Frau, die ihn in seiner Männlichkeit bestätigt, wird er alles gewähren… Er wird ihr selbst sein Leben opfern… Nimue«,
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