Die Nebel von Avalon
Raven drücken und immer von neuem wiederholen
: Es ist nur ein Sturm, ein Sturm mit Regen, Blitz und Donner. Es ist nicht der Zorn der Göttin…
Der Sturm legte sich nach einiger Zeit, und Morgaine erwachte in einer reingewaschenen Welt. Der Himmel wölbte sich blaß und wolkenlos über dem Land, auf jedem Blatt schimmerte Wasser, und Wassertropfen hingen an den Grashalmen. Die Welt schien in Wasser getaucht und sich noch nicht trockengeschüttelt zu haben. Wenn Ravens Sturm wirklich über Camelot hereinbrechen sollte, würde die Welt dann so schön daraus hervorgehen? Morgaine dachte:
Ich glaube nicht.
Raven erwachte und sah sie mit angstgeweiteten Augen an. Morgaine sagte ruhig und vernünftig wie immer: »Wir werden sofort zu Niniane gehen und dann, noch vor Sonnenaufgang, zum Spiegel. Wenn der Zorn der Göttin über uns kommt, müssen wir wissen, warum und auf welche Weise.«
Raven gab schweigend ihr Einverständnis. Aber nachdem sie sich angekleidet hatten und das Haus verlassen wollten, berührte Raven Morgaine am Arm: »Gehe zu Niniane«, flüsterte sie mühsam und rang mit ungeübter Stimme um jedes Wort, »ich bringe Nimue. Auch sie hat teil daran…«
Morgaine war überrascht und nahe daran zu widersprechen. Aber dann sah sie, wie der Himmel im Osten verblaßte und ging. Vielleicht hatte Raven in dem bösen prophetischen Traum endlich den Grund dafür gesehen, weshalb sie Nimue zu sich genommen und in völliger Abgeschiedenheit erzogen hatte. Sie erinnerte sich an den Tag, als Viviane sie von ihrer eigenen Aufgabe unterrichtet hatte, und sie dachte:
Armes Mädchen!
Aber es war der Wille der Göttin, und sie waren alle in ihrer Hand. Als Morgaine allein und schweigend durch den feuchten Obstgarten ging, sah sie, daß nicht alles so ruhig und schön war – der Sturm hatte die Blüten abgerissen; sie ging wie über Schnee. In diesem Herbst würde es wenig Äpfel geben.
Wir können den Boden pflügen und die Saat ausstreuen. Aber allein Ihre Gnade läßt die Frucht heranreifen… Warum mache ich mir also Sorgen? Es wird geschehen, was Sie für richtig hält…
Sie weckte Niniane aus tiefem Schlaf, und die junge Frau sah sie an, als habe sie den Verstand verloren.
Sie ist keine Priesterin,
dachte Morgaine.
Der Merlin hat die Wahrheit gesprochen… Sie wurde nur gewählt, weil Taliesin ihr Vater war. Vielleicht ist die Zeit gekommen, und ich muß wirklich meinen Platz als Herrin von Avalon einnehmen.
Sie wollte Niniane nicht beleidigen oder machtgierig erscheinen, wollte die jüngere Frau nicht herabsetzen. Sie hatte in ihrem Leben genug Macht besessen… Aber jede wahre Priesterin, jede Erwählte der Göttin hätte Ravens Aufschrei vernommen. Und doch hatte diese Frau die Prüfungen bestanden, die der Priesterweihe vorausgingen. Die Göttin hatte sie nicht zurückgewiesen.
Für welche Aufgabe hat die Göttin sie bestimmt?
»Ich sage dir, Niniane, ich habe es gehört – und Raven ebenfalls… Wir müssen vor Sonnenaufgang in den Spiegel blicken!«
»Ich habe kein großes Vertrauen mehr in diese Dinge«, erwiderte Niniane ruhig. »Was geschehen muß, wird geschehen… Aber wenn du es wünschst, Morgaine, werde ich Euch begleiten…«
Schweigend, wie zwei dunkle Flecken in der weißen, wäßrigen Welt näherten sie sich dem Spiegelsee unterhalb der Heiligen Quelle. Beim Gehen sah Morgaine aus den Augenwinkeln Ravens große, verschleierte und stumme Gestalt. Neben ihr ging gleich einem blassen Schatten Nimue – wie eine zarte weiße Blüte am Morgen. Ihre Schönheit machte Morgaine betroffen – selbst Gwenhwyfar war nie so schön gewesen. Quälende Eifersucht erfaßte sie.
Alle meine Opfer wurden von der Göttin nicht mit einem solchen Geschenk belohnt…
Niniane sagte: »Nimue ist eine Jungfrau. Sie muß in den Spiegel blicken.«
Im blassen Wasser spiegelten sich vier dunkle Gestalten vor dem fahlen Himmel, auf dem die ersten zarten rosa Streifen den Sonnenaufgang ankündigten. Nimue trat an den Rand des Teichs und teilte den Vorhang ihrer langen blonden Haare mit beiden Händen. Morgaine sah Wasser in einer Silberschale vor sich und Vivianes bewegungsloses, hypnotisches Gesicht…
Nimue fragte leise und tonlos: »Was soll ich sehen, meine Mutter?« Morgaine erwartete, daß Raven sprechen würde, aber jene schwieg. Deshalb fragte Morgaine schließlich: »Ist Avalon gestürmt worden und einem Verrat zum Opfer gefallen? Was ist mit den Heiligen Insignien geschehen?«
Schweigen. Nur ein paar Vögel
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