Die Nebel von Avalon
Sie ruht hier in Frieden. Sie ist in Gottes Hand. Du mußt sie nicht betrauern. War sie vielleicht mit dir verwandt?«
Morgaine nickte und senkte den Kopf, um die Tränen zu verbergen.
»Wir beten immer für sie«, sagte die Nonne, »ich weiß zwar nicht, wer sie war, aber man sagt, sie sei eine Freundin und Wohltäterin unseres guten Königs Artus gewesen.« Sie neigte den Kopf und murmelte ein Gebet. Während sie betete, läuteten die Glocken.
Morgaine fuhr zusammen. Hörte Viviane anstelle der Harfen von Avalon nur diese lärmenden Glocken und die düsteren Choräle?
Ich habe nie geglaubt, ich würde einmal neben einer christlichen Nonne stehen und gemeinsam mit ihr beten.
Aber dann erinnerte sie sich an Lancelots Worte im Traum:
Nimm diesen Kelch. Du hast der Göttin gedient, und alle Götter sind ein Gott…
»Komm mit mir hinauf ins Kloster, Schwester. Du mußt hungrig sein und müde.«
Morgaine ging mit ihr bis zur Klosterpforte, folgte ihr aber nicht hinein. »Ich bin nicht hungrig«, erklärte sie. »Aber wenn ich einen Becher Wasser haben könnte…?«
»Natürlich.« Die Frau winkte einem jungen Mädchen, das mit einem Wasserkrug kam und einen Becher füllte. Morgaine setzte ihn an die Lippen, und das Mädchen sagte: »Wir trinken nur Wasser aus der Quelle des Kelchs. Sie ist heilig, wißt Ihr?«
Sie glaubte Vivianes Stimme zu hören:
Die Priesterinnen trinken nur das Wasser der Heiligen Quelle.
Die Nonne und das junge Mädchen, das ebenfalls schwarze Gewänder trug, wandten sich um und neigten den Kopf, als eine große Frau aus dem Portal des Klosters trat. Die Nonne sagte: »Dies ist unsere Äbtissin.«
Morgaine dachte:
Irgendwo habe ich sie schon einmal gesehen.
Aber noch während ihr der Gedanke durch den Kopf ging, sagte die Äbtissin: »Morgaine, erkennt Ihr mich nicht? Wir hielten Euch schon lange für tot…«
Morgaine lächelte sie bekümmert an: »Es tut mir leid… ich weiß nicht…«
»Nein, Ihr werdet Euch nicht an mich erinnern«, entgegnete die andere, »aber ich habe Euch hin und wieder in Camelot gesehen. Natürlich war ich damals noch sehr jung. Ich heiße Lionors. Ich war mit Gareth verheiratet. Als meine Kinder alle erwachsen waren, kam ich hierher… um meine Tage zu beschließen. Seid Ihr zu Lancelots Begräbnis gekommen?« Lächelnd fügte sie hinzu: »Eigentlich hätte ich ›Vater Galahad‹ sagen sollen. Aber es ist schwer, sich daran zu erinnern. Jetzt ist er im Himmel, und es ist ohnedies nicht mehr wichtig.« Sie lächelte wieder. »Ich weiß nicht einmal, wer König ist, oder ob Camelot noch steht… im Land herrscht wieder Krieg. Es ist nicht mehr wie zu König Artus' Zeiten. Das scheint schon so lange zurückzuliegen«, fügte sie gelassen hinzu.
»Ich bin gekommen, um Vivianes Grab zu besuchen. Sie liegt hier… erinnert Ihr Euch?«
»Ich habe das Grabmal gesehen«, erwiderte die Äbtissin, »aber das geschah alles, ehe ich zum ersten Mal nach Camelot kam.«
»Ich möchte Euch um einen Gefallen bitten«, sagte Morgaine und deutete auf den Korb. »Dies ist der Heilige Dorn, der auf den Hügeln von Avalon wächst. Man sagt, Joseph von Arimathia habe dort seinen Stab in die Erde gestoßen, und daraus sei der Dornbusch erblüht. Ich möchte einen Zweig auf ihr Grab pflanzen.«
»Tut es, wenn Ihr wollt«, entgegnete Lionors.
»Ich sehe nicht, daß jemand Einwände dagegen erheben könnte. Es erscheint mir richtig, daß er hier in der Welt wachsen soll und nicht verborgen in Avalon.«
Sie sah Morgaine betroffen an.
»Avalon! Kommt Ihr von dort? Aus diesem unheiligen Land?« Morgaine dachte:
Früher wäre ich deshalb zornig geworden.
»Es ist nicht unheilig, was immer auch die Priester sagen mögen«, entgegnete sie freundlich. »Denkt darüber nach… hätte Joseph von Arimathia seinen Stab dort in den Boden gesteckt, wenn das Land ihm unheilig erschienen wäre? Ist der Heilige Geist nicht überall?«
Die Äbtissin in ihrem weißen Gewand neigte den Kopf. »Ihr habt recht. Ich werde Novizinnen bitten, Euch beim Pflanzen zu helfen.«
Morgaine wäre lieber allein geblieben, aber sie wußte, es war freundlich gemeint. Die Novizinnen kamen ihr wie Kinder vor… Sie waren so jung, daß Morgaine sich fragte, ob sie überhaupt genug von geistigen Dingen verstanden, um sich für ein solches Leben entscheiden zu können – und vergaß dabei völlig, daß sie selbst mit achtzehn zur Priesterin geweiht worden war. Sie hatte geglaubt, die Nonnen wären immer traurig und
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