Die Nebel von Avalon
bringen…«
Viviane drückte die schwere Tür auf und betrat den Raum. Tödliches Schweigen – grabkammergleich – empfing sie. Igraine kniete blaß und verstört wie eine Statue neben dem Bett. Ihr Schleier war völlig zerknittert. Ein schwarz gewandeter Priester stand regungslos am Kopfende und murmelte leise Gebete. Obwohl Viviane beinahe geräuschlos ins Zimmer trat, hörte Igraine sie.
»Du wagst es…«, flüsterte sie wutentbrannt, hielt aber sofort inne und rief dann: »Viviane! Dich muß Gott geschickt haben.«
»Ich ahnte nicht, daß du mich brauchst«, antwortete Viviane. Jetzt war nicht die Zeit, um über das Gesicht zu sprechen. »Nein, Igraine, weinen hilft jetzt nicht. Ich will ihn untersuchen und sehen, wie schwer die Verletzung ist.«
»Der Arzt des Königs…«
»… ist vermutlich ein alter Narr, der nur Arzneien aus Ziegenmist kennt«, erwiderte Viviane ruhig. »Ich habe solche Wunden bereits behandelt, als du noch in den Windeln lagst, Igraine. Ich möchte das Kind sehen.«
Nur einmal hatte sie Uthers Sohn kurz zu Gesicht bekommen. Damals war er etwa drei Jahre alt gewesen und hatte wie jedes andere blonde, blauäugige kleine Kind ausgesehen. Für sein Alter war er inzwischen ungewöhnlich groß geworden – hager, aber mit muskulösen Armen und Beinen, die von Dornengebüsch und Brombeerhecken zerkratzt waren. Sie schlug das Laken zurück und sah die großen Blutergüsse und Quetschungen an seinem Körper.
»Hat er Blut gehustet?«
»Nein, überhaupt nicht. Das Blut am Mund stammt von einem ausgeschlagenen Zahn, aber der saß ohnedies nicht mehr fest.«
Viviane sah die aufgeplatzte Lippe und die Zahnlücke. Die Platzwunde an der Schläfe war schlimmer. Einen Augenblick lang hatte Viviane wirklich Angst. Sollten ihre Pläne so enden? Sie betastete mit ihren kleinen Fingern den Kopf. Sie sah, wie Gwydion zusammenzuckte, wenn sie die Wunde berührte. Dies war das beste Zeichen, das sie haben konnte. Bei Blutungen unter der Schädeldecke wäre des Königs Sohn inzwischen so tief im Koma, daß kein Schmerz ihn mehr erreichte. Viviane griff nach unten und kniff Gwydion sehr fest in den Schenkel, und er wimmerte im Schlaf.
Igraine warnte erschrocken: »Du tust ihm weh!«
»Nein«, erwiderte die Schwester, »ich versuche nur herauszufinden, ob er leben oder sterben wird. Aber er wird es überleben, glaube mir!« Sie klopfte ihm sanft auf die Wange, und Gwydion schlug die Augen auf.
»Gib mir die Kerze«, sagte Viviane und bewegte sie langsam vor den Augen des Jungen hin und her. Er folgte dem Licht mit seinen Blicken, ehe ihm die Augen wieder zufielen und er vor Schmerzen stöhnte.
Viviane erhob sich. »Achte darauf, Igraine, daß er Ruhe hat und ein oder zwei Tage nur Suppe zu essen bekommt, nichts Festes! Tauche sein Brot nicht in Wein, sondern nur in Suppe oder Milch. In drei Tagen wird er wieder munter herumspringen.«
»Wie könnt Ihr das wissen?« wollte der Priester wissen.
»Weil ich die Heilkunst erlernt habe, was glaubt Ihr sonst?«
»Seid Ihr nicht eine Zauberin von der Insel der Hexen?« Viviane lachte leise.
»Keineswegs, Vater. Ich bin eine Frau, die, wie Ihr selbst, ihr Leben damit zubringt, die heiligen Dinge zu studieren. Gott hat mich für würdig befunden, mir die Kunst des Heilens zu schenken.« Sie dachte daran, daß es ihr gelang, die Priester mit ihren eigenen Worten zu schlagen. Auch wenn der Schwarzgewandete es nicht wahrhaben wollte, sie wußte, die Gottheit, die sie beide verehrten, war größer und weniger eifernd als alle Priester zusammen. »Igraine, ich muß mit dir sprechen. Komm…«
»Ich muß hierbleiben. Wenn Gwydion wieder aufwacht, wird er nach mir verlangen…«
»Unsinn. Seine Kinderfrau soll sich um ihn kümmern. Es geht um Wichtigeres!«
Igraine sah sie vorwurfsvoll an. »Isotta soll bei ihm wachen«, sagte sie dann ärgerlich zu einer der Frauen und folgte Viviane hinaus in die Halle.
»Igraine, wie ist es geschehen?«
»Ich weiß nicht genau… man erzählt, er ritt den Hengst seines Vaters… ich bin völlig durcheinander. Ich weiß nur, daß sie ihn wie einen Toten hereintrugen…«
»Du hast es nur deinem Glück zu verdanken, daß er
nicht
tot ist«, erwiderte Viviane unverblümt. »Wacht Uther so über das Leben seines einzigen Sohnes?«
»Mache mir keine Vorwürfe, Viviane… ich habe versucht, ihm andere Söhne zu schenken«, sagte Igraine mit zitternder Stimme. »Aber ich glaube, ich werde für meinen Ehebruch bestraft und
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