Die Nebel von Avalon
Druidenglaubens: Die großen Kräfte, die Land, Meer, Himmel und Sterne geschaffen hatten, konnten in einem von Menschen geschaffenen Haus nicht angemessen verehrt werden, und es gelang keinem Gegenstand, den Menschenhände geformt hatten, das Unendliche in sich aufzunehmen. Deshalb war der Spiegel der Herrin weder aus Bronze noch aus Silber.
Hinter Viviane erhoben sich die grauen Mauern des uralten Sonnentempels, den das Strahlende Volk erbaut hatte, das vor Jahrhunderten aus Atlantis hierhergekommen war. Vor ihr lag der Große See, gesäumt vom hohen, wogenden Schilf. Selbst an einem klaren Tag breitete sich inzwischen Nebel über das Wasser und das Land. Aber hinter dem See lagen Inseln und andere Seen, die das ganze Gebiet umfaßten, das man das Sommerland nannte. Meist lag es im Wasser, bestand aus Mooren und Salzmarschen. Aber im heißesten Sommer trockneten die Teiche und manche der brackigen Seen aus; fruchtbares Land tauchte auf und bot dem Vieh fette Weiden. An dieser Stelle wich der Binnensee sogar Jahr für Jahr zurück und gab trockenes Land frei. Eines Tages würden hier fruchtbare Felder liegen… aber nicht in Avalon. Avalon war jetzt für immer in Nebel gehüllt und für alle außer den Gläubigen verborgen. Wenn die Menschen zu dem Kloster pilgerten, das die christlichen Mönche
Glass Town
nannten, konnten sie den Sonnentempel nicht erkennen, der in einer fremden, anderen Welt lag. Wenn Viviane ihren inneren Blick auf das Kloster richtete, sah sie die Kirche, die die Mönche gebaut hatten.
Viviane wußte, daß die Kirche dort stand, obwohl sie nie den Fuß dorthin gesetzt hatte und es bis zu ihrem Tode auch nie tun würde. Vor Jahrhunderten, so hatte der Merlin ihr gesagt, und sie glaubte ihm, waren etliche Priester aus dem Süden hierhergekommen. Sie hatten den Propheten aus Nazareth bei sich, den sie hier zu lehren gedachten.
Jesus wurde von den Druiden in ihre Weisheit eingeweiht – an dem Platz, an dem sich früher der Sonnentempel erhob. Und Jahre später… so erzählte die Legende… wurde ihr Christus geopfert und verwirklichte in seinem Leben die alten Mysterien des geopferten Gottes, die älter waren als die Seele Britanniens. Danach kam einer seiner Anhänger hierher zurück und stieß auf dem Heiligen Felsen seinen Stab in die Erde, der Wurzeln schlug und zu dem Dornbusch wurde, der nicht nur wie das andere dornige Gesträuch im Sommer blüht, sondern auch mitten im Winter in Eis und Schnee. Im Gedenken an den freundlichen Propheten, den die Druiden gekannt und geliebt hatten, gestatteten sie Joseph von Arimathia, auf dem Boden der Heiligen Insel ihrem Gott eine Kapelle und ein Kloster zu errichten:
Denn alle Götter sind ein Gott.
Aber das lag weit zurück.
Eine Zeitlang hatten Druiden und Mönche Seite an Seite gelebt und den Einen Gott verehrt. Dann aber waren die Römer auf die Insel gekommen. Und obwohl sie dafür bekannt waren, daß sie fremde Götter achteten, gingen sie ohne Rücksicht gegen die Druiden vor, fällten die Bäume ihrer heiligen Haine und verbreiteten Lügen. Sie sagten, die Druiden hätten Menschenopfer dargebracht. Ihr wahres Verbrechen bestand jedoch darin, daß sie das Volk ermutigten, sich gegen das römische Gesetz und gegen die
Pax Romana
aufzulehnen. Und schließlich hatten sie in einem letzten großen Akt druidischer Magie die letzte große Veränderung in der Welt bewirkt, um den letzten unersetzlichen Zufluchtsort ihrer Schule zu schützen. Durch diese Veränderung entfernten sie Avalon aus der Welt der Menschen.
Jetzt lag die Insel verborgen im Nebel, der sie umgab. Nur die Eingeweihten, die dort ausgebildet worden waren, oder denen man die geheimen Wege über den See zeigte, konnten dorthin gelangen. Die Stämme wußten, wo Avalon lag, und verehrten dort ihre Götter. Die Römer waren Christen seit Constantin, der nach einer Vision, die er in einer Schlacht gehabt hatte, alle seine Legionen taufen ließ. Sie glaubten, ihr Christus hätte den druidischen Glauben vernichtet, ohne zu ahnen, daß die wenigen überlebenden Druiden ihr uraltes Wissen in dem verborgenen Land lehrten und weitergaben.
Als Hohepriesterin von Avalon vermochte Viviane, wenn sie es wünschte, mit dem zweiten Gesicht zu sehen. Wenn sie wollte, konnte sie den Turm erkennen, den die Mönche auf dem Gipfel des Felsens errichtet hatten, auf dem Heiligen Berg der Weihung. Der Turm war Michael geweiht, einem ihrer jüdischen Engel, der von alters her die Aufgabe hatte, die niedere,
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