Die Netzhaut
Packung Cracker standen. Auf dem Teller lag eine unberührte Scheibe Brot mit Käse.
»Sie werden morgen entlassen?«
»Glaub, schon.«
»Was ist mit dem Auge?«
Liss zuckte leicht die Schultern.
»Das soll noch mal untersucht werden, bevor ich entlassen werde. Sie konnten mir noch nichts Genaues sagen.«
Jennifer setzte sich auf die Bettkante.
»Haben Sie mit jemand darüber gesprochen … was geschehen ist?«
Liss verzog das Gesicht.
»Irgend so ein Psychologe war hier, ein ziemlicher Nerd. Ich habe ihm höflich gesagt, dass ich keine Hilfe brauche, und darüber schien er eigentlich ganz froh zu sein.«
Jennifer musste lächeln.
»Und Ihre Mutter? Oder Ihr Stiefvater?«
»Die tun, was sie können. Aber meine Mutter braucht mehr Hilfe als ich.«
Im schwachen Schein der Lampe war Liss’ Gesicht ein gräulich bleiches Oval unter der Bandage. Jennifer war versucht, ihr über das Haar zu streichen.
»Der Kommissar war übrigens hier. Dieser Viken. Er hat mir noch ein paar Fragen gestellt.«
»Das ist bestimmt notwendig«, entgegnete Jennifer nickend. »Auch wenn die Ärzte Ihnen Ruhe verordnet haben.«
»Es hat fast zehn Stunden gedauert, bis sie ihn gefunden haben.«
»Das habe ich gehört.«
Jennifer hatte Viljam Vogt-Nielsen obduziert, nachdem man seine Leiche unter dem Eis hervorgezogen hatte. Aber darüber wollte sie nicht sprechen.
»Glauben Sie, dass er Schmerzen hatte?«
»Nein«, antwortete Jennifer mit Entschiedenheit und fügte hinzu: »Er hat das Bewusstsein verloren, bevor er durch das Eis brach. Wahrscheinlich ist er im Fallen mit dem Kopf gegen den Fels geprallt.«
Liss saß regungslos da und starrte aus dem Fenster.
»Ich habe ihn gestoßen. Ich habe gehört, wie er mit dem Kopf aufgeschlagen ist, aber ich bin weggelaufen.«
Es hörte sich so an, als mache sie sich Vorwürfe.
»Wegen ihm sind Sie jetzt hier!«, protestierte Jennifer.
Liss wickelte sich eine Locke um den Zeigefinger.
»Und weil der Kommissar beschlossen hatte, eine Sondereinheit zur Hütte zu schicken. Er hat geahnt, dass Viljam dort sein würde.«
Es wunderte Jennifer nicht, dass Viken hatte durchblicken lassen, wem Liss ihre Rettung zu verdanken hatte.
»Ich habe einen Menschen getötet.«
Jennifer stand auf und stellte sich neben ihren Stuhl.
»Liebe Liss«, sagte sie und berührte ihre Schulter. »Ich bin keine Psychologin. Aber nach allem, was Sie durchgemacht haben, ist es völlig normal, dass Sie so empfinden. Es ist das typische Schuldgefühl derer, die überlebt haben. Sie sollten mit jemand darüber reden. Glauben Sie mir, es gibt auch fähige Psychologen.«
*
Nachdem Jennifer Plåterud gegangen war, dachte Liss darüber nach, was sie gesagt hatte. Sollte sie wirklich mit einem Psychologen sprechen? Als Kommissar Viken da gewesen war, hatte sie all ihre Kräfte mobilisiert und mit ihm über das Geschehen am Morrvann gesprochen. Das hatte ihr geholfen. Der Kommissar behauptete, er habe sich in erster Linie nach ihrem Befinden erkundigen wollen. Doch er protestierte nicht, als sie ihm erzählte, was sie wusste.
»Er ist Mailin zum Postamt gefolgt, hat im Auto auf sie gewartet und ist dann mit ihr zur Hütte gefahren. Wie er hinterher den Eindruck erwecken konnte, dass er die ganze Zeit über in Oslo war, weiß ich nicht.«
»Das haben wir herausgefunden«, erklärte Viken. »Er fuhr abends zur Arbeit und kehrte danach wieder zur Hütte zurück. Er muss sie dort gefangen gehalten haben, um dann am nächsten Morgen, dem 11. Dezember, mit ihr zu der Fabrik zu fahren.«
»Hat er sie dort gefilmt? Der Videoclip war doch vom 12. Dezember.« Sie dachte einen Moment nach. »Aber es ist ja nicht schwierig, auf dem Handy das Datum zu ändern.«
Viken gestattete sich ein vages Lächeln.
»Ganz genau. Ich glaube, mit Ihrem Kopf ist alles in Ordnung, auch wenn er zwischendurch großer Kälte ausgesetzt war.«
Sie mochte seinen Ton, geradeheraus und ohne falsches Mitleid.
»Er muss auch ihr Handy benutzt haben, um Berger eine SMS zu schreiben. Und nicht nur ihm.«
Halte dir Mittsommer nächstes Jahr frei
. »Hat er auch Jim Harris getötet?«
»Das nehmen wir stark an«, antwortete Viken. »Harris hatte anscheinend etwas beobachtet, das nicht für seine Augen bestimmt gewesen war.«
»Er ist an diesem Nachmittag in Mailins Praxis gewesen … Das Auto. Er hat gesehen, wie Viljam ihr Auto dort geparkt hat.«
»Richtig«, bestätigte Viken. »Jim Harris ist erst später klar geworden, was das bedeutet.
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