JULIA COLLECTION Band 20
1. KAPITEL
Daisy war sehr stolz auf ihre Zuverlässigkeit, und deshalb ärgerte es sie umso mehr, zu spät zu der Beerdigung zu kommen. Erst hatte das blöde Telefon ständig geklingelt, und als sie sich dann endlich gerade umzog, hatte jemand an die Haustür geklopft. Vor Schreck hatte sie einen ihrer guten Schuhe unters Bett geschubst. Zum Glück hatte Faylene die Tür geöffnet. Ihre Besucher waren die Leute vom Elektrizitätswerk, die sich erkundigt hatten, wann sie den Strom abschalten sollten.
Daisy war wieder nach oben in ihr Zimmer gelaufen und hatte ihren Schuh unterm Bett hervorgeholt. Dabei hatte sie sich eine Laufmasche in ihrer einzigen schwarzen Strumpfhose eingehandelt. Obendrein sprang ihr Auto bei so feuchtem Wetter immer schlecht an. Und so war sie mehr als zehn Minuten zu spät gekommen.
Jetzt stand sie etwas steif und abseits von den anderen Trauergästen am Grab ihres verstorbenen Patienten. Der kalte Regen durchnässte allmählich ihren Regenmantel, der zwar uralt, aber wenigstens schwarz war. Ihre knallgelbe Öljacke war ihr zu einer Beerdigung doch ziemlich unpassend erschienen.
Natürlich war Egbert bereits da. Daisy hatte ihn bisher als den pünktlichsten Menschen der Welt erlebt. Da sie ihre große Sonnenbrille trug, konnte sie den Mann, den sie sich als zukünftigen Ehemann ausgeguckt hatte, völlig ungehemmt mustern. Sie war alt genug, um zu wissen, worauf es bei der richtigen Partnerwahl ankam. Denselben Fehler würde sie bestimmt kein zweites Mal begehen.
Der gute Egbert hatte von ihren Plänen natürlich keine Ahnung. Es käme ihm sicher nie in den Sinn, dass eine Frau es ganz bewusst darauf anlegte, ihn in eine Ehe zu locken. Allerdings war er auch sehr bescheiden – eine Tugend, die Daisy sehr wohl zu schätzen wusste. Von Angebern hielt sie nicht viel.
Jetzt traten ein paar der wenigen Leute, die um das Grab standen, ein wenig zur Seite, und so konnte Daisy zum ersten Mal einen Blick auf den Mann neben Egbert werfen. Der, dachte sie, ist ein perfektes Beispiel. Wenn dieser große, schlanke Mann auch nur einen Funken Bescheidenheit besitzt, dann wäre ich ernsthaft überrascht. Schon allein die Art, wie er dort mit leicht gespreizten Beinen und vor der Brust verschränkten Armen stand, drückte Arroganz aus.
Egbert trug seinen üblichen schwarzen Anzug und darüber einen gut geschnittenen schwarzen Regenmantel. Als umsichtiger Mensch hatte er natürlich auch einen Regenschirm dabei. Er ist wirklich ein gut aussehender Mann, überlegte Daisy. Vielleicht nicht gerade vordergründig attraktiv, wohl eher auf eine zurückhaltende, bescheidene Art.
Bescheidenheit war für sie überhaupt das Wichtigste. Im Gegensatz zu ihren beiden Freundinnen, die nicht viel Wert darauf legten, unauffällig durchs Leben zu gehen, hatte Daisy noch keine Scheidung hinter sich. Lediglich einen Fehlschlag, der ihrem Selbstbewusstsein allerdings auch einen herben Schlag verpasst hatte. Wenn Egbert erst mal erkannte, was für eine perfekte Ehefrau sie abgeben würde, wäre er für sie die erste Wahl. Ihre Ehe wäre die Verbindung zweier seelisch reifer Menschen.
Daisys Blick kehrte zu dem großen Fremden zurück.
Er trug weder Regenmantel noch Schirm. Der Regen prasselte auf seinen Kopf, und das nasse schwarze Haar hing in die Stirn seines braun gebrannten Gesichts. Daisy konnte sich selbst nicht erklären, wieso dieser Anblick sie so erregte. Eines hatte sie doch sicher aus ihrer Vergangenheit gelernt: Sobald körperliche Erregung ins Spiel kam, verabschiedete sich der gesunde Menschenverstand.
Der Mann überragte Egbert um einen Kopf, und so hätte er Egberts Schirm nur schwer mit nutzen können. Egbert hätte es ihm sicher angeboten, denn er war nicht nur höflich, sondern auch mitfühlend. Ein weiterer Pluspunkt für ihn.
Der Pfarrer sagte, von mehreren Niesern unterbrochen, ein paar Worte über den Verstorbenen, dem sie die letzte Ehre erwiesen, während Daisy immer wieder über den rätselhaften Fremden nachdenken musste. Hätte sie ihn schon einmal gesehen, dann würde sie sich bestimmt an ihn erinnern, und das lag sicher nicht daran, dass er als Einziger unpassend gekleidet war.
Andererseits boten die Jeans und die Lederjacke weit mehr Schutz vor dem Regen als ihr sechs Jahre altes schwarzes Kleid und der nicht gerade wasserdichte Regenmantel, ganz zu schweigen von den Pumps, die langsam im schlammigen Boden versanken.
Es war nicht sehr kalt, doch allmählich regnete es immer heftiger. Das
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