Die Netzhaut
Minuten, stand sie wieder auf. Sie schaute unter den Zweigen hindurch. Sie kannte diese Bäume. Sie wiesen ihr den Weg. Dies war ihr Wald, nicht seiner.
Sie stolperte über eine Schneewehe auf die Straße. Wollte ihre Füße voreinander setzen, doch es waren nicht mehr ihre. Sie versuchte, auf dem Bauch vorwärtszurobben, während ihre Hände immer noch auf dem Rücken fixiert waren. Sie schaffte es ein paar Meter, ehe ihr gesamter Körper erstarrte. Da krümmte sie sich zusammen und zog die Beine ganz eng an den Körper.
In der Ferne näherte sich das Geräusch eines Motors. Sie drehte den Kopf, weit genug, um das Licht zu erblicken, das zwischen den Bäumen tanzte.
Sie kommen, um dich zu holen, Liss. Dieser Ort war für dich bestimmt.
Epilog
Dienstag, 20. Januar
J ennifer Plåterud schaltete ihren PC aus, hing den weißen Kittel in den Schrank, schlüpfte auf den Gang und schloss die Tür hinter sich ab. Sie hatte soeben beschlossen, sich ein Paar neue Stiefeletten zu gönnen, die sie bei Hatty and Moo im Internet entdeckt hatte. Auch sie bestanden aus Antilopenleder, sahen durch eine dekorative Bronzespange aber ziemlich verwegen aus, was zu ihrer gegenwärtigen Stimmung passte.
Es war Viertel nach vier. Der Elternabend der zehnten Klasse sollte um 19 Uhr beginnen, und Ivar war der Ansicht, dass jetzt wirklich mal sie an der Reihe sei. Außerdem hatte sie versprochen, vorher noch etwas zu essen zu machen, weil beide Jungs später zum Training mussten. Wenn sie näher darüber nachdachte, wäre eigentlich Ivar an der Reihe gewesen, und sie ärgerte sich darüber, dass er sie überredet hatte. Jennifer schaute ein weiteres Mal auf die Uhr und entschied sich, an ihrem eigentlichen Plan festzuhalten. Trotz aller familiären Verpflichtungen eilte sie zum Hauptgebäude des Rikshospitals und betrat die große Eingangshalle, die sie an einen Flugzeughangar erinnerte.
Während sie die Treppe zur Galerie hinaufging, musste sie an Roar Horvath denken. Sie hatte ihn vorhin angerufen und angedeutet, dass sich in den nächsten Tagen ein Besuch in Manglerud einschieben ließe, doch schien er bereits andere Pläne zu haben. Zum dritten Mal in dieser Woche hatte sie eine ausweichende Antwort erhalten. Warum konnte er nicht einfach sagen, was Sache war? Glaubte er etwa, sie würde die Wahrheit nicht ertragen? Sie ärgerte sich darüber, dass sie ihm jetzt nicht zeigen konnte, wie leicht sie es nahm. Sie hatte sich in ihm geirrt. Als sie ihm auf der Weihnachtsfeier das erste Mal begegnet war, hatte sie ihm ein sanguinisches Temperament zugeschrieben. Aber wer ist auf einer Weihnachtsfeier nicht ausgelassen? Inzwischen erschien er ihr mehr wie eine Mischung aus Melancholiker und Phlegmatiker, was ihn nicht sonderlich von Ivar und den norwegischen Männern im Allgemeinen unterschied. Es war nicht das erste Mal, dass sie mit ihrer Einschätzung grob danebengelegen hatte, doch deshalb das gesamte hippokratische System anzuzweifeln kam nicht infrage.
Als sie im ersten Stock auf der Galerie entlangging, strömten ihr viele Menschen entgegen. Manche kannte sie flüchtig und nickte ihnen kurz zu. Die Sehnsucht würde ein paar Tage anhalten, sagte sie sich, und dann vorübergehen. So war es ihr mit den meisten Männern ergangen. Sollten sie in Frieden ruhen. Selbst die Erinnerung an Sean war schließlich verblasst. Zumindest musste sie nicht mehr ständig an ihn denken. Und die Sache mit Roar Horvath war nicht mehr als eine heilsame Ablenkung gewesen. Für eine Weile hatte sie ihre Angst vor dem Dahinwelken gedämpft, und jetzt brauchte sie ihn nicht mehr.
Nachdem sie sich am Empfang der Station erkundigt hatte, klopfte sie auf dem Gang an die vorletzte Tür. Im Zimmer war es dunkel, und es dauerte ein paar Sekunden, bis sie sah, dass jemand am Fenster auf einem Stuhl saß.
»Hallo, Liss.«
Die junge Frau drehte sich um. Das eine Auge war unter einer dicken Bandage verborgen.
»Hallo«, entgegnete sie matt.
Jennifer schloss die Tür hinter sich.
»Ich habe gehört, dass Sie immer noch im Krankenhaus liegen, und wollte mich selbst überzeugen, wie es Ihnen geht.«
Liss knipste eine Lampe an. Sie wirkte noch dünner als bei ihrer letzten Begegnung, auf der Beerdigung ihrer Schwester. Um ihren Hals lagen Melolin-Kompressen, die mit Klebeband befestigt waren.
»Ich habe alles, was ich brauche. Werde gut versorgt.«
Sie machte eine Kopfbewegung in Richtung des kleinen Tischs, auf dem eine Kanne mit gelbem Saft und eine
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