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Die Netzhaut

Die Netzhaut

Titel: Die Netzhaut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Torkil Damhaug
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Die Tentakel einer Feuerqualle entfalteten sich und brannten im ganzen Körper.
    »Du bist ein lieber Junge, Jo. Du bist so lieb, so lieb. Du kannst alles mit mir machen, absolut alles. So denkst du doch auch. Glaubst du etwa, ich kenne dich nicht, Liss Bjerke? Glaubst du etwa, Mailin hätte mir nicht alles über dich erzählt, was ich wissen muss? Der Rest ist Müll.«
    Er zog die Nadel heraus, legte seine Hand auf ihre Stirn und zog mit einem Finger ihr Lid nach oben. Sie war jetzt hellwach und schüttelte mit aller Kraft ihren Kopf. Er packte ihre Haare und hielt sie eisern fest. Sie spürte die kalte Spitze an ihrem Augapfel. Als hätte sich dort ein Insekt mit seinem riesigen Stachel niedergelassen. Es stach ein paarmal. Dann schien eine Haut zu platzen. Dieser Schmerz war anders. Er riss sie auseinander, und nirgends ein Ort, der ihr Zuflucht bot. Ihr Auge lief über, das Licht der Lampe änderte seine Farbe, wurde schwarz, und aus diesem Dunkel spannte sich ein Bogen in allen Farben.
    »Ich will dir die Stelle zeigen«, schrie sie.
    Er beugte sich ganz nah zu ihrem Gesicht herab.
    »Welche Stelle?«
    »Unten am Wasser.«
    Er riss die Nadel heraus, etwas lief ihr über die Wange.
    »Nicht das andere«, bat sie. »Noch nicht. Nicht bevor ich dir die Stelle gezeigt habe.«
    »Von der du in deinem Notizbuch schreibst? Wo du dich in den Schnee legen willst? Wo du zu den Bäumen hinaufschauen und erfrieren willst?«
    Sie versuchte zu nicken.
    »Es ist nicht weit.«
    Er hielt die Spritze an ihr Lid, dann ließ er seine Hand sinken, lockerte das Seil und zerrte sie an den Haaren durchs Zimmer.
    »Zeig mir die Stelle«, zischte er und riss die Axt an sich, die immer noch vor dem Kamin lag. »Zeig mir die Stelle, an der du sterben wirst.«
     
    Sie ging vor ihm her, barfuß und nackt. Der Wind kam direkt vom Morrvann und brannte auf ihren Brüsten und den Oberschenkeln. Seine Schritte im Schnee, ein paar Meter hinter ihr.
Du hast Angst, Liss.
Mailins Stimme ist verschwunden. Jetzt spricht der Vater zu ihr.
Endlich hast du Angst.
Ich habe Angst.
Du willst nicht sterben.
Ich will nicht sterben. Sie legte den Kopf zurück. Mit dem einen Auge konnte sie nur noch einen grauen Streifen im Dunkel zwischen den Bäumen ausmachen. Und sie vernahm das Geräusch des Windes. Das habe ich mir damals gewünscht, als du gefahren bist, mich in den Schnee zu legen und zu spüren, wie die Kälte mich umschließt und auflöst.
Ich werde dich vermissen, Liss. Wir sind aus dem gleichen Holz geschnitzt, du und ich.
    Sie drehte sich zu der hohen, schmalen Gestalt um. Das Gesicht kam aus dem Grau, ganz nah an ihr Gesicht heran.
    »Darf ich mich kurz dort oben auf den Fels setzen und über das Wasser schauen? Nur ein paar Minuten.«
    Er grunzte. Sie spürte ihre Füße nicht mehr. Die Kälte hatte sich bis nach oben in ihre Knie gefressen. Sie rutschte auf dem vereisten Weg aus.
    »Hilf mir«, bat sie.
    Er kletterte neben ihr hinauf, ging in die Hocke, fasste sie unter dem Arm und zog sie nach oben. Für einen Augenblick standen sie dicht nebeneinander. Sie blickte in sein Gesicht. Die Wut in seinen Augen war verschwunden.
    »Arme Liss«, flüsterte er.
    Sie warf sich abrupt nach vorne und stieß ihm mit aller Kraft, die noch in ihrem erstarrten Körper steckte, den Kopf gegen die Brust. Er schwankte, stand an der Kante und ruderte mit den Armen, ließ die Axt fallen und versuchte sich an ihrer glatten Schulter festzuhalten. Es dauerte ein, zwei Sekunden. Dann fiel er hintenüber. Sie hörte, wie etwas auf dem Fels aufprallte, danach ein plumpsendes Geräusch, als er durch die Rinne im Eis brach.
    Sie rollte von dem Fels herunter und kam auf die Beine. Glaubte, ihn rufen zu hören, drehte sich aber nicht um.
Es ist der Wind.
Sie kämpfte sich durch den tiefen Schnee.
Nicht zur Hütte. Dort findet er dich.
Sie lief am Schuppen vorbei.
Du wirst nicht sterben, Liss.
Sie krabbelte am Abhang entlang, fand die Stelle, die weniger steil war. Sie schlängelte sich hinauf. Der Schnee zog sie zu sich, doch sie wollte nicht länger in ihm verschwinden. Oben auf der Kuppe war der Schnee fester. Sie versuchte, sich zwischen die Bäume zu flüchten, und blieb hinter einer dicken Tanne stehen. Da hörte sie Schritte, duckte sich unter die tiefsten Äste. Ein Flüstern im Ohr:
Aber Liss, ohne mich gehst du nirgends hin.
Sie ließ sich am Stamm hinabsinken, presste ihre Wange gegen die rauhe Rinde.
    Ein wenig später, vielleicht nach einer, vielleicht nach zehn

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