Die seltene Gabe
Kapitel 1 |
Wenn man eine ganz normale siebzehnjährige Gymnasiastin ist und einfach so durch die Stadt radelt und plötzlich überall mehr Polizisten und Polizeiautos sieht als je zuvor im Leben, denkt man dann, dass das etwas mit einem selbst zu tun haben könnte? Denkt man nicht. Ich jedenfalls sah mich die ganze Zeit bloß staunend um und dachte, wow, bestimmt ein Bankraub. Geiselnahme. Hier bei uns, in unserem verschlafenen Städtchen. Sensationell. Und hatte es plötzlich eilig, nach Hause und vor den Fernseher zu kommen, um mehr zu erfahren. Es war Ende März, aber doch schon ein wunderschöner, warmer Frühlingstag. Den Nachmittag hatte ich bei Jessica verbracht, meiner besten Freundin. Wir hatten die Hausaufgaben zusammen gemacht und über die Welt und das Leben und über Jungs geredet...Naja, um genau zu sein, hauptsächlich über Jungs, und um noch genauer zu sein, hauptsächlich über einen ganz bestimmten Jungen, über Dominik nämlich, in den Jessica aktuell verknallt war und der am Tag zuvor nicht nur mit ihr geredet, sondern sich sogar mit ihr verabredet hatte. Na toll! Jessica und ich kriegten jedes Mal Streit, wenn sie frisch verliebt war. Auch diesmal hatte es wieder so geendet. Sie fing nämlich immer bei der erstbesten Gelegenheit an zu schwärmen, wie toll der Typ sei und wie süß und all der Quatsch, und ja, gut und schön, eine Weile konnte ich das auch über mich ergehen lassen, bloß hörte sie nie von selber wieder auf. Also kam unweigerlich der Moment, in dem mir das alles auf die Nerven ging. Dann sagte ich Sachen wie, dass sie sich doch bitte schön mal umsehen solle an der Schule und schauen, ob es irgendwelche Mädchen gäbe, die von ihren Liebesgeschichten was anderes hätten als Ärger. »Wenn du den Typ nicht kriegst, kommst du um vor Sehnsucht, und wenn du ihn hast, vor Eifersucht«, war mein Sprüchlein. Jessica hatte daraufhin rumgeschmollt, dass das bei ihr was völlig anderes sei – klar –, und ich hatte weitergemacht von wegen, die Jungs bei uns an der Schule seien ohnehin alle eingebildet und langweilig und könnten mir samt und sonders gestohlen bleiben. »Du bist bloß neidisch, weil dich sowieso keiner anschaut«, hatte Jessica gegiftet und ich hatte zurückgefaucht, jawohl, das sei mir auch sehr recht. Vor allem könne ich herzlich gern darauf verzichten, dass mich einer wie Dominik anschaue. »Auf den fliegen doch alle bloß wegen seiner blonden Locken«, hatte ich gesagt. »Damit sieht er so unschuldig aus wie ein Engelchen. Aber in Wirklichkeit hat er es faustdick hinter den Ohren.« Und weil ich gerade so schön dabei war, gemein zu sein, hatte ich angefangen aufzuzählen, mit wem der tolle Dominik mit den süßen blonden Lo cken schon alles herumgemacht hatte und wie schnell es jedes Mal vorbei gewesen war. »Wenn du mich fragst, der Typ wird von einem Hersteller für Papiertaschentücher gesponsert.« Danach waren nur noch Tränen geflossen und ich hatte meine Sachen gepackt und mich auf den Heimweg gemacht. Unterwegs ließ ich mir Zeit. Jessica wohnte ziemlich genau am anderen Ende der Stadt, das heißt, es war ein ordentliches Stück Weg bis nach Hause. Ich musste mich auch erst abregen und an den Gedanken gewöhnen, nun wieder einige Wochen ohne beste Freundin auskommen zu müssen; und außerdem wartete niemand auf mich. Meine Eltern waren zurzeit nicht da. Mutter hatte einige Monate zuvor an einem Preisausschreiben teilgenommen, was ihr noch nie vorher in den Sinn gekommen war, und mit dem Glück des blutigen Anfängers hatte sie gleich den ersten Preis gewonnen, eine zweiwöchige Kreuzfahrt durch die Karibik. Für zwei Personen selbstredend. Also waren Herr und Frau Behnert in die zweiten Flitterwochen aufgebrochen, während das brave Töchterlein Marie zu Hause blieb und derweil das Haus hütete. Was mir, ganz ehrlich, nicht das Geringste ausmachte. Genau genommen, fand ich es phantastisch. Zum ersten Mal ein ganzes Haus für mich alleine! Großartig. Nicht dass ich meine Eltern nicht liebe und so, aber ich fühlte mich, seit sie abgereist waren, so herr lich selbstständig und unabhängig, dass es von mir aus noch wochenlang so hätte weitergehen können. Ich liebte es, das Haus zu versorgen. Zu meinem eigenen Erstaunen machte ich Einkäufe, wusch Wäsche und saugte Teppiche, und das, obwohl sich in der Speisekammer die Vorräte stapelten, saubere Wäsche im Schrank lag und man von den Teppichen hätte essen können – einfach, weil ich mir so unerhört
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