Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler
zurechtzufinden. Der Satz «Yalo verstand nicht, was vor sich ging» grundiert wie ein Cantus firmus den ganzen Roman.
Im Kampf um Wahrheit und Gedächtnis arbeitet sich Yalo an dem Problem ab, woran er sich erinnern und was er lieber vergessen möchte. In aller verwirrenden Widersprüchlichkeit kommt der gemarterte Häftling letztlich doch den Realitäten seines Lebens auf die Spur, vor allem den Rätseln seiner komplexen Familiengeschichte. Yalo entstammt einer verfolgten und unterdrückten Minderheit, der orientalischen Christensekte der Syro-Aramäer. Seine Familie wurde vor zwei Generationen aus dem Zweistromland vertrieben, flüchtete nach Westen und lieà sich schlieÃlich im westlichen Beiruter Stadtteil Musaitba, dem Viertel der Aramäer und Orthodoxen, nieder. Durch die Teilung der Stadt abermals vertrieben, flüchtete Yalo mit Mutter und GroÃvater nach Ost-Beirut, wo sich der Junge entwurzelt und verloren fühlte. Die Lebenslügen seiner Familie kommen nun ans Licht, im Spiel zwischen Vergessen und Erinnern, falschen Gewissheiten und echten Zweifeln kommt die Wahrheit heraus.
Elias Khoury variiert ständig die literarischen Mittel und den Blickwinkel auf Yalos Leben: Autobiographie wechselt mit erzwungenen Geständnissen, auktoriale Erzählung mit Polizeiberichten. Der Roman besteht aus Konfessionen: echten und falschen Bekenntnissen,freiwilligen und solchen, die unter Folter erpresst werden. Ein hartes Gerichtsurteil beendet den Roman, der in Yalos Erkenntnis mündet, dass er sein Leben vergeudet hat. Wie Scheherazade in «Tausendundeine Nacht» erzählt Yalo jede Nacht eine andere Geschichte, um am Leben zu bleiben. Doch anders als die kluge Scheherazade kann Yalo sich dadurch nicht retten.
Die vielen widersprüchlichen Lesarten und Interpretationen von Yalos Leben sind für den Leser eine Schule des Zweifels und der Skepsis und machen falschen Gewissheiten den Garaus. Sie sensibilisieren ihn für die gesellschaftlichen Katastrophen und die politischen und rechtlichen Zusammenbrüche in diesem Bürgerkriegsland, in dem kein moralischer Kompass mehr funktioniert. Im Libanon ist auf nichts Verlass. SchlieÃlich hatte jede Bürgerkriegspartei mit jeder anderen irgendwann eine Allianz geschlossen und jede Koalition irgendwann verraten. Dass die libanesische Regierung nach dem Ende des Bürgerkriegs 1991 die Milizen auflöste und zugleich eine Amnestie für alle Kriegsverbrecher erlieÃ, worauf viele Milizenführer in die Politik gingen und Parteien gründeten, war für einen politisch-moralischen Neuanfang nicht eben verheiÃungsvoll.
Der Libanon ist ein künstliches Gebilde, von der französischen Kolonialmacht nach dem Zerfall des Osmanischen Reichs aus der Nahost-Landkarte gefräst. Diesen schmalen Landstreifen an der Levante-Küste müssen sich seit jeher eine Vielzahl untereinander verfeindeter Ethnien, religiöser Gemeinschaften, Sekten und Familien-Clans samt ihren jeweils affiliierten politischen Parteien teilen. Und alle päppeln ihre ethnischen Unverträglichkeiten und halten ihre Clanfehden am Köcheln. Insofern stellt der Libanon nur ein extremes Beispiel für die Binnenfeindschaften und Fliehkräfte innerhalb vieler ehemaliger Kolonien in Afrika und im Mittleren Osten dar, in denen lauter heterogene Gruppen und Stämme von den Kolonialherren zu künstlichen Staatsgebilden zusammengezwungen wurden, was seither zu Spannungen führt, die sich immer wieder eruptiv entladen, in Bürgerkriegen, Massakern, Vertreibungen und sogenannten ethnischen Säuberungen.
Die inneren Widersprüche des zersplitterten Libanon sind derStoff, an dem sich die libanesischen Autoren, die Dagebliebenen wie auch die Emigranten, abarbeiten. Das prekäre Gleichgewicht unter all diesen heterogenen Gruppen ist schwierig zu halten und kann jederzeit in blutigem Chaos zusammenbrechen. Erst recht, da der Libanon schon in den Jahrzehnten als französisches Mandatsgebiet ständig mit inneren Spannungen zu kämpfen hatte und bis heute unter den Einmischungen mächtiger Nachbarn wie Syrien oder Israel zu leiden hat, die ihre ewigen Konflikte miteinander auch auf libanesischem Boden austragen. Praktisch ist das Land heute ein syrisches Protektorat.
Seit jeher ist der Libanon eine Drehscheibe für Zu- und Abwanderer, ein Land, dem sein Staatsvolk locker sitzt, immer auf dem Absprung. Einerseits muss das
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