Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler
Land immer wieder als unfreiwilliges Gastland für ausländische Kämpfer herhalten (was den Bürgerkrieg von 1975 bis 1990 mit seinem Milizen-Unwesen nur noch verworrener machte); andererseits aber verliert der Libanon in jeder Krise Bevölkerungsteile durch Flucht und Vertreibung. Mehrere Millionen Libanesen â vermutlich mehr Menschen, als der Libanon heute Einwohner hat â leben in der Diaspora, als Emigranten verstreut über den ganzen Globus. Allein der Bürgerkrieg schlug geschätzte 800.000 Menschen in die Flucht.
Einer dieser Flüchtlinge ist Amin Maalouf, der 1976 mit 27 Jahren über Zypern nach Paris emigrierte, wo er seitdem als Journalist für arabische Medien und Autor vornehmlich historischer Romane lebt, die er auf Französisch schreibt. Maalouf entstammt einer Familie von typisch libanesischer Komplexität. Seine Sippe, so berichtet er in seiner Familiengeschichte «Die Spur des Patriarchen» und in seinem Essay «Mörderische Identitäten», war ursprünglich ein Nomaden-Clan in der Wüste, irgendwo zwischen Syrien und Arabien, und wanderte erst im 19. Jahrhundert in den Libanon ein. Seine Mutter kam aus einer maronitischen, sein Vater aus einer melchitischen Familie; er hatte einen türkischen GroÃvater und eine ägyptisch-maronitische GroÃmutter; ein GroÃonkel war Priester der melchitischen Kirche; auÃerdem gab es unter seinen Vorfahren einen presbyterianischen Prediger und einen katholischen Priester.
Amin Maalouf selbst ging als arabischer Christ in Beirut bei den Jesuiten zur Schule. Bereits in der Generation seiner Eltern gab es in der Familie mehr Auswanderer als Sesshafte. Man emigrierte, weil man im eigenen Land keine Existenzmöglichkeit sah und weil man an die Zukunft des Libanon nicht glaubte. Die Sippe zerstreute sich damals schon in alle Winde â nach Ãgypten, Puerto Rico, New York, Texas, Kuba, Australien. Und als Maalouf für die Recherchen zu seiner weitverzweigten Familienchronik auch sein Heimatdorf besuchte, da belehrte ein alter Nachbar den Gast aus Paris über das Wesen der libanesischen Diaspora: «Hier hat jede Familie einen Sohn, der in Beirut begraben liegt, einen in Ãgypten, einen anderen in Argentinien oder Brasilien oder in Mexiko, andere wiederum in Australien oder den Vereinigten Staaten. Unser Los ist es, im Tod ebenso verstreut zu sein, wie wir es im Leben waren.»
Seine migrantischen Erfahrungen und die Spurensuche nach seinen verstreuten Vorfahren prägen auch Maaloufs hybrides Selbstverständnis als arabischer Christ und in Frankreich lebender bekennender Exilant. Er stöÃt sich an dem Paradoxon, dass Identität â entgegen allen Globalisierungstendenzen zur Mobilität â immer noch am Urbild einer statischen «tribalen» Ursprungs- oder Abstammungsgruppe festgemacht wird. Dieses Paradoxon müsse aufgehoben werden zugunsten eines Konzepts von dynamischen, wandelbaren, sich entwickelnden Mischidentitäten: «Identität ist nichts, das ein für alle Mal feststeht; sie formt und transformiert sich über ein ganzes Leben hinweg», schreibt der Autor in seinem Essay «Mörderische Identitäten».
Identität müsse verstanden werden «als Summe vielfältiger Zugehörigkeiten». Und: «Sobald man bei sich selbst, in seiner Abstammung, seiner Biografie, diverse Komponenten, diverse Vermischungen, diverse Schnittmengen, unterschwellige und widersprüchliche Einflüsse erkennt, entsteht ein verändertes Verhältnis zu den anderen sowie zum eigenen â¹Stammâº. Es gibt dann nicht mehr bloà â¹die Unsrigen⺠und â¹die Anderenâº: zwei Armeen in Schlachtordnung, die sich auf das nächste Gefecht vorbereiten, auf den nächsten Racheakt.»
Deshalb plädiert Maalouf für eine flexible Neudefinition von Identität: «Wir können uns nicht damit zufriedengeben, Milliarden vonratlosen Menschen nur die Wahl zwischen einem übertriebenen Beharren auf ihrer Identität und dem Verlieren jeglicher Identität, zwischen Fundamentalismus und Traditionsverlust zu lassen.» Ein neues Verständnis von Identität sei umso mehr vonnöten, als die Globalisierung «in gewissem Sinne alle Menschen zu Migranten und Angehörigen einer Minderheit gemacht» habe. Identität sei veränderlich und konstituiere sich immer öfter aus mehreren Zugehörigkeiten. Nur wer diese
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