Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler
Vielfalt von Zugehörigkeiten uneingeschränkt zur Geltung bringen könne, werde als soziales Bindemittel der jeweiligen Gesellschaft funktionieren können. Das Bedürfnis nach einer unverrückbaren Stammeszugehörigkeit, einer fixen Verankerung sei heutzutage längst obsolet â erst recht, da Stammbäume im Libanon, wie sein eigener beweist, höchst buntscheckig seien.
Maaloufs Plädoyer für ein tolerantes Ausleben vielfältiger Zugehörigkeiten gibt allerdings nicht die herrschende Mentalität im Libanon wieder. Da obwaltet immer noch das Clandenken entlang «tribaler», ethnischer und religiöser Zugehörigkeiten. Und wenn man die kurze, noch keine hundert Jahre währende Geschichte dieses Staatswesens in Betracht zieht, dann stellt man fest: Krieg beginnt nicht erst, wenn die Leute anfangen, aufeinander zu schieÃen. Schon unter der kolonialen Bevormundung zu Mandatszeiten schwollen die Spannungen in dieser von Grund auf zerrütteten Gesellschaft immer wieder an, um zwischendurch scheinbar abzuflauen, aber nie ganz zu verschwinden â erst recht nicht, nachdem die Religionsgemeinschaften 1943 einen Nationalpakt miteinander abschlossen, der das Glaubensbekenntnis zum politischen System machte und Christen und Muslimen nach einem festen Proporz-Schlüssel den Anspruch auf Beteiligung an Staatsämtern zubilligte. Dieses Quotensystem, nach dem die Macht unter den fast zwei Dutzend religiösen Gemeinschaften aufgeteilt wird, barg immer schon Konfliktstoff, da sich die Zahlenverhältnisse der Religionsgemeinschaften untereinander ständig verschieben.
So hat auch der Bürgerkrieg der 1970er und 1980er Jahre einen langen Vorlauf, und zu dieser Vorgeschichte gehört beispielsweise die Libanon-Krise von 1958. Und diese hat wiederum ihrerseits eine Vorgeschichte: das Kirchen-Massaker von Miziara im Jahr 1957. Fürlibanesische Autoren gibt es also kein Entkommen: Alle schreiben, direkt oder indirekt, über den Bürgerkrieg. Der Bürgerkrieg ist, latent oder manifest, in ihren Romanen immer gegenwärtig, selbst wenn er nicht ausdrücklich zum Thema gemacht wird. Und keinem Autor dürfte der Bürgerkrieg ein dringlicheres und persönlicheres Anliegen sein als Jabbour Douaihy, dem aus Zghorta im Nordlibanon gebürtigen Erzähler und Professor für Französische Literatur an der Universität Beirut.
Douaihy, dessen Familie sich bis zu den Kreuzzügen und den französischen Kreuzrittern (aus Douai!) zurückdatiert, hat als Kind eine blutige Episode der immerwährenden libanesischen Konfliktgeschichte aus nächster Nähe miterlebt. Er war acht Jahre alt, als sein Clan und die gegnerische Familie Frandschie im Juni 1957 während eines Gottesdienstes in der Kirche
Nôtre Dame
von Miziara ein Massaker anrichteten, in dem ihre Parteigänger sich wechselseitig erschossen. Der Blutfehde der verfeindeten Clans, beide maronitische Christen, fielen 24 Menschen, darunter auch unbeteiligte Kirchgänger, zum Opfer. Daran schlossen sich jahrelange Familienfehden und archaische Blutrache-Aktionen mit zahlreichen Toten, bis eine allgemeine Amnestie Tätern und Opfern das groÃe Vergessen ermöglichte. Die Justiz â der Staat â erwies sich als zu schwach, um das Verbrechen gerichtlich zu ahnden.
Dieses Massaker ist das Thema von Jabbour Douaihys Roman «Morgen des Zorns», der 2006 in die Endauswahl des arabischen Booker-Preises gelangte. Der Roman erzählt also ein düsteres Kapitel aus Douaihys eigener Familiengeschichte und beschreibt es zugleich als Prototyp für ein verdrängtes Kapitel in der uralten Verfeindungsgeschichte des Libanon. Das Blutbad in der Kirche von Miziara ist ein Trauma bis heute. Die dokumentarischen Fakten werden von Jabbour Douaihy nur leicht verfremdet: Er verändert die Familiennamen und den Namen des Dorfes, behält aber das genaue Datum des Massakers bei. Er legt seinen Roman unverkennbar als eine historische Recherche an.
Sein Protagonist Elia ist der in die USA emigrierte Sohn eines der Ermordeten. «Das Maà ist voll, mein Sohn, das ist ein kaputtes Land.Pack deinen Koffer und geh, bleib keinen einzigen Tag länger hier!», hatte ihn die Mutter angefleht und ihn zuerst in ein Internat und dann ins Ausland geschickt. Das hatte ihm zwar möglicherweise das Leben gerettet, ihn zugleich aber völlig entwurzelt. Aus Elia ist ein ziel- und bindungsloser Mann
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