Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler
selbst ein Immigrant aus Trinidad, seine entwurzelten Landsleute, die durch das kalte und finstere Labyrinth der Weltmetropole London stolpern und sich als ungelernte Hilfsarbeiteram untersten Rand der Gesellschaft wiederfinden. Doch Selvon beschreibt sie eben nicht als viktimisierte «Andere», sondern als gewitzte und zähe Ãberlebenskünstler, die rasch lernen, sich in einer unfreundlichen Umwelt nicht nur zu behaupten, sondern auch neu zu erfinden.
Waterloo Station ist ihrer aller Ankunftsort in der Stadt: nicht nur der Kopfbahnhof der «Boat Train», der Zubringerbahn von den Ankunftshäfen, sondern auch das Einfallstor in die Stadt und ein Ort der Metamorphose. Die Fremdlinge in ihren dünnen Tropen-Klamotten und mit ihren Pappkoffern und Bündeln erleben hier ihren Ãbergangsritus, der aus südlichen Sonnen-Insulanern ewig fröstelnde GroÃstädter des Nordens macht, die über die Dampfwolken vor ihren Mündern staunen und sich in ihren kalten Untermietzimmern in Notting Hill oder Paddington jede Shilling-Münze für die Gasheizung werden absparen müssen.
Zugleich nötigen die Ankömmlinge ihrerseits London, das nicht auf sie vorbereitet ist, zur Neuerfindung. Sie transformieren allmählich die Stadträume, in denen sie sich niederlassen. Ganze urbane Quartiere werden von den Zuzüglern neu geprägt und westindisch umgestaltet. Sie kreolisieren ihr Territorium, die Gegend zwischen «the Gate», «Arch» und «Water», also das Stadtquartier zwischen Notting Hill, Marble Arch und Bayswater.
Sie kreolisieren auÃerdem die englische Sprache und reichern sie an mit den humoristischen Wendungen ihres karibischen StraÃen-Slangs und der balladesken Suada, die ihrem mündlichen Austausch den subversiven Humor und ihren Erzählungen die besondere Dynamik verleiht. Sam Selvon hat für seine Migrantenchronik ein lebhaftes und kraftvolles Kunst-Kreolisch erfunden, das witzig zu lesen, aber schwierig zu übersetzen ist, was wohl der Grund dafür sein dürfte, dass «The Lonely Londoners» bisher nicht auf Deutsch vorliegt.
Notting Hill, Paddington und später Earlâs Court entwickeln sich zu westindischen Enklaven, ebenso wie Brixton in Süd-London, das sein Debüt als multiethnische Kommune erlebt. In den heruntergewohnten und vernachlässigten Mietquartieren, so liest man bei Sam Selvon, hausen die Zugezogenen eng zusammengedrängt, oft in elendenLöchern mit der Gemeinschaftstoilette im Halbstock. Sie pumpen einander reihum an, bis jeder bei jedem Schulden hat, leihen bibbernden Neuankömmlingen ihre Wollpullover und rupfen schon mal eine StraÃentaube für den Kochtopf, wenn der Hunger allzu groà wird und der Wochenlohn für eine Fleischmahlzeit nicht reicht. Und alle ersehnen den kurzen Londoner Sommer, wenn die englischen Mädchen sich endlich aus ihren Wintervermummungen schälen, ihre Sommerfähnchen hissen und bereit sind, sich im Hyde Park mit hübschen Boys aus der Karibik in die Büsche zu schlagen.
Sam Selvon liebt seine karibischen London-Debütanten, er lässt seine westindischen Spitzbuben in der Diaspora nicht verzweifeln, auch wenn sie nicht oder kaum vorankommen und den sozialen Aufstieg nicht schaffen. Untereinander sind sie eng vernetzt, doch auch nach Jahren des Lebens in der Stadt müssen sie feststellen, dass ihre Netzwerke über die eigene Landsmannschaft kaum hinausreichen: «Keiner in London akzeptiert uns wirklich. Sie tolerieren uns, das schon, aber sie werden uns nie zu sich nach Hause einladen.»
Die Erzählerin Andrea Levy sieht das bereits ein wenig anders, differenzierter. Sie ist eine Generation jünger als Sam Selvon; sie ist in London in dem Jahr geboren, 1956, als «The Lonely Londoners» erscheint. Ihre Eltern sind, wie auch die Eltern von Zadie Smith, aus Jamaika eingewandert. Ihre Vorfahren sind eine abenteuerliche Mischung: Ein rothaariger Schotte zählt ebenso dazu wie ein jüdischer GroÃvater und eine UrurgroÃmutter, die in Jamaika noch als Sklavin geboren wurde.
Als Heranwachsende erfährt Andrea Levy, dass ihr eigener Vater einer der «Windrush»-Passagiere gewesen ist und damit auch zur ersten optimistischen Welle der Nachkriegsimmigration gehört. Natürlich nimmt auch die Tochter zunächst den Blickwinkel jamaikanischer Zuwanderer ein, wenn sie in ihren Romanen auf GroÃbritannien schaut. Doch das
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