1274 - Der Wolf und das Mädchen
»Mr. Sinclair, ich sage Ihnen ganz offen und ehrlich, dass ich verdammte Angst habe. Und zwar nicht so sehr um mich, sondern um Caroline, meine Tochter. Ich möchte nicht, dass ihr etwas passiert. Sie ist so jung, sie soll leben.«
»Wie alt ist sie denn?«
»Elf!«
Nach dieser Antwort spürte ich einen leichten Stich in mir. Auch wenn ich nicht der Vater eines Kindes war, konnte ich die Sorgen einer Mutter doch verdammt gut verstehen, und dass Wendy Crane zu mir gekommen war, dafür gab es einen besonderen Grund, denn in ihrem Heimatort schlichen der Tod und das Grauen umher, wobei beide ein und dieselbe Person waren.
Wendy Crane selbst lebte nicht mehr in dem kleinen Ort. Sie fuhr nur ab und zu zum Wochenende nach Woodstone, auch nur dann, wenn der Job es eben zuließ.
Von ihr wusste ich, dass sie als Medienberaterin arbeitete und in London an ihrer Karriere bastelte.
Sie war jetzt 35, gut im Geschäft, und es wäre beruflich für sie fatal gewesen, wenn sie sich in ihre Heimat zurückgezogen hätte.
Dort lebte ihre Tochter zusammen mit Wendys Mutter in deren Haus. Sie war bei der Oma gut aufgehoben, und es hatte auch alles wunderbar geklappt, wäre nicht das Grauen über Woodstone gekommen, das die Menschen in Angst und Schrecken versetzte.
Es war ein Raubtier, ein Wolf, ein heller Schatten, wie Zeugen berichteten. Er huschte durch die Dunkelheit. Er holte die Opfer. Er hatte schon Menschen gerissen, die in den Tiefen der umliegenden Wälder gefunden worden waren. Manche schon verwest. Andere noch so weit in Ordnung, dass die schweren Bisswunden zu erkennen gewesen waren.
Die Bewohner von Woodstone gingen davon aus, dass es sich um einen großen Wolf handelte oder sogar um einen Bären.
Dieser Ansicht war Wendy Crane nicht.
»Sie haben also Angst«, nahm ich den Faden wieder auf, »dass Ihre Tochter von dieser Bestie geraubt werden könnte.«
»Ja, das habe ich.«
»Sind schon andere Kinder verschwunden?«
»Nein, aber man hat es versucht. Einige hatten Glück. Aber wenn Sie von einer Bestie sprechen, Mr. Sinclair, ist mir das zu wenig. Ich glaube, dass es sich um einen Werwolf handelt.«
»Und zwar um einen hellen - oder?«
»Genau.«
Ich gab zunächst keine Antwort und schaute an Wendy Crane vorbei durch das Fenster. Der Ausblick war fantastisch. Ich konnte die Themse sehen, die aus dieser Höhe aussah wie ein silbernes Band, das die Millionenstadt teilte. Es war ein sonniger Tag, doch es lag ein leichter Dunst über dem Wasser. Trotzdem waren die hellen Sprenkel auf den Wellen zu sehen. Die Schiffe pflügten die Fluten auf. Helle und mit kleinen Fahnen geschmückte Ausflugsboote schipperten Einheimische und Touristen über das Wasser, und die berühmte Tower Bridge stand wie ein mächtiger Wächter über dem gesamten Panorama.
Dieses Büro war von der Lage her einfach top. Und ebenso top mussten auch die Mietpreise hier sein, was zu dem Schluss führte, dass Wendy Crane nicht eben zu den Normalverdienerinnen gehörte. Ihre Medienberatungen mussten wirklich etwas einbringen.
Sie kannte alles, was in London Rang und Schulden hatte. Eine wie sie musste sich stets gut informieren, immer auf der Höhe sein, und sie wusste auch über mich Bescheid. Leider war ich nicht mehr anonym, wie ich es mir gewünscht hätte, und so war Wendy Crane eben auf mich gekommen.
Man konnte sie als attraktive Person bezeichnen. Der taubenblaue Hosenanzug aus einem leichten Sommerstoff saß perfekt. Darunter trug sie ein helles Seidentop als Oberteil. Eine schmale Goldkette lag um ihren Hals. Zwei Ringe schmückten ihre manikürten Finger.
Die Haare hatte sie gefärbt. Zwei Farben zeigten ein Gemisch aus Rot und Blond. Natürlich war sie gut frisiert, aber nicht so steif und perfekt wie man es immer in den Modezeitschriften sieht. Eine gewisse Lockerheit war schon vorhanden, und auch das Make-up passte zu ihr. Es war dezent, sodass es kaum auffiel. Ich sah, dass sie sehr helle Augen hatte. In dem Grau bemerkte ich kleine grüne Sprenkel. Fingernägel und Lippen zeigten die gleiche Farbe. Ein blasses Rot mit einem Blaustich, der auch zu ihrem Hosenanzug passte.
Sie war einfach perfekt. Für meinen Geschmack zu perfekt. Das musste man in ihrem Job wohl sein.
Allerdings hätte ich gern hinter ihre Fassade geschaut. Da mussten menschliche Gefühle liegen.
Zum Beispiel die Angst um ihr Kind und möglicherweise auch die Angst um sich selbst, sonst wäre sie nicht an mich herangetreten.
»Gibt es Beweise?« fragte
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