Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler
ohne Klassenschranken solidarisch zusammengerückt seien â alles Legende. Was in Hitlers Bombenhagel auf London unversehrt stehen blieb, waren vor allem die kulturellen Barrieren zwischen den gesellschaftlichen Klassen. Umso weniger sind die verarmten und verunsicherten Nachkriegs-Londoner daher in der Lage, das zeigt Andrea Levy sehr genau, dem Zustrom der Arbeitsmigranten aus den Kolonien ohne Ablehnung und Feindseligkeit zu begegnen.
In der Romanfigur des RAF-Mannes Bernard mit seinen anachronistischen kolonialherrlichen Allüren wetterleuchtet bereits eine gefährliche atmosphärische Spannung, die sich in der britischen Realität zehn Jahre später erstmals gewaltsam entladen wird. Wie die Mehrheit der weiÃen Briten hält Bernard Ethnizität für eine Eigenschaft der anderen. Es wird noch lange dauern, und viele Rassenkrawalle und feindselige Ausschreitungen werden die Migranten der drei Einwanderungswellen aus der Karibik, vom indischen Subkontinent und aus den afrikanischen Ex-Kolonien noch erdulden müssen, ehe die weiÃen Briten davon ablassen werden, sich selbst als die nationale Norm und die Zuwanderer als minderwertige Abweichler von dieser Norm zu betrachten.
Zu Anfang der 1950er Jahre ist das innerstädtische Nebeneinander der Ethnien in London noch einigermaÃen friedlich. Noch gibt es keine Ausbrüche von offenem Rassenhass gegen die Zuzügler. Die Notting Hill-Rassenkrawalle von 1958, in denen gewalttätige «Keep Britain White»-Mobs über die Westinder herfallen, sie in ihren Vierteln attackieren und ihre Häuser und Läden verwüsten werden, liegen noch in der Zukunft. Ebenso wie auch der
Commonwealth Immigrants Act
von 1962, ein Gesetz, das den freien Zuzug von Commonwealth-Bürgern ins Mutterland drastisch einschränken wird, womit vor allem unerwünschte Zuwanderer vom indischen Subkontinent und aus Afrika gemeint sind.
Doch in den frühen 1950er Jahren hat der Zustrom aus anderen Teilen des Empire als der Karibik noch gar nicht richtig eingesetzt. Vor allem die Zuwandererströme aus Pakistan, Indien, dem späteren Bangladesch und dem späteren Sri Lanka (das noch Ceylon heiÃt), beginnen gerade erst im englischen Mutterland einzutreffen. Sie werden die späten 1950er und frühen 1960er Jahre bestimmen. Zu diesem Zeitpunkt gibt es noch keine Literatur, die sich mit dem Thema indische oder afrikanische Immigration beschäftigt. Die späteren Chronisten der Zuwanderung vom Subkontinent â Salman Rushdie, Hanif Kureishi, Monica Ali, Nadeem Aslam oder Michael Ondaatje â sind zu diesem Zeitpunkt, den frühen 1950er Jahren, entweder Kinder oder noch gar nicht geboren; über ihre eigene schwierige Ankunft in Englandwerden diese Autoren erst Jahrzehnte später schreiben können, und ihre groÃen Werke über Entkolonialisierung, die den Horizont der englischen Literatur unerhört erweitern und ihr ein völlig neues Gepräge geben werden, erscheinen erst ab den 1980er Jahren.
Die Vorhut der Einwanderung vom indischen Subkontinent bildet ein elfjähriger Junge aus der Kronkolonie Ceylon. Das Kind entstammt der feudalen, aber inzwischen etwas heruntergekommenen Oberschicht der Insel, ist seiner Herkunft nach eine wilde tamilisch-singhalesisch-holländisch-britische Mischung und überdies das Resultat einer zerbrochenen Ehe. Im Jahr 1954 wird der Kleine ganz allein per Schiff von Colombo nach England geschickt. An Bord der «Oronsay» wird er zu seiner geschiedenen Mutter nach London verfrachtet, um auf ein englisches Internat zu gehen. Für den kleinen Tropen-Bewohner bedeutet diese Verschickung nicht nur einen Akt der Entwurzelung; sie kommt einer Vertreibung aus dem Paradies seiner Kindheit gleich.
Mehr als ein halbes Jahrhundert später wird sich Michael Ondaatje, inzwischen ein vielfach preisgekrönter Welt-Autor, der zwischen Colombo und Toronto, seiner Herkunftswelt und seiner Wahlheimat, hin- und herpendelt, an seine Ankunft in England erinnern, vor allem an die Empfindung von Kälte, die dem kleinen Jungen in England entgegenschlug. Wie er in «Katzentisch», seinem märchenhaften Roman über diese Schiffsreise, schreibt, erwartete ihn seine Mutter am Kai in Tilbury. «Ich stieg die breite Gangway zum Kai hinunter. Ich versuchte herauszufinden, wer meine Mutter sein konnte. Ich wusste nicht mehr recht, wie sie aussah. Ich hörte: â¹Michaelâº, und in der
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