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Die neuen Leiden des jungen W

Die neuen Leiden des jungen W

Titel: Die neuen Leiden des jungen W Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Urlich Plenzdorf
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ihn überall mit hin, weil er auch eingereiht werden sollte. Sie waren nämlich immerzu auf der Suche nach diesem Agitator. Das sollte wohl rührend sein oder was. Der Bruder ließ sich auch mitschleppen, die Reiserei machte ihm zum Teil sogar Spaß, und diese prachtvolle Studentin konnte ihm auch was sein und er ihr auch, ich dachte an einer Stelle sogar, noch ein Wort und er kriegt sie rum, wenn er will. Jedenfalls wurde sie mir von dem Moment an gleich viel sympathischer. Alles das machte er mit, aber einreihen ließ er sich deswegen noch lange nicht. Er wollte Clown im Zirkus werden, und das ließ er sich nicht ausreden. Sie sagten, er will sich bloß rumtreiben, statt einen ordentlichen Beruf zu lernen. Einen ordentlichen Beruf, Leute, das kannte ich! Natürlich wollte er unter anderem zum Zirkus, weil er da die Welt sehen konnte, jedenfalls ein Stück. Na und? Ich verstand ihn völlig. Ich verstand nicht, was daran schlecht sein sollte. Ich glaube, die meisten wollen die Welt sehen. Wer von sich behauptet: nein — der lügt. Ich stieg immer sofort aus, wenn einer behauptete, Mittenberg, das sollte schon die Welt sein. Und dieser Bruder stieg eben auch aus.
    Langsam interessierte mich der Mann, der das verfaßt hatte. Ich beobachtete ihn die ganze Zeit, in der wir da im Lehrerzimmer saßen und erzählten, wie hervorragend wir den Film gefunden hatten und was wir alles daraus lernen könnten. Erst sagten alle anwesenden Lehrer und Ausbilder, was wir daraus zu lernen haben, und dann sagten wir, was wir daraus gelernt hatten. Der Mann sagte die ganze Zeit kein Wort. Er sah ganz so aus, als wenn ihn diese ganze Show mit uns Musterknaben ungeheuer anödete. Danach fand für die Filmschöpfer ein Rundgang durch die ganzen Werkstätten von uns statt und das. Bei der Gelegenheit schmissen wir uns an den Mann ran, ich und Old Willi. Wir hängten uns an ihn ran und blieben mit ihm zurück. Ich hatte das Gefühl, daß er uns zunächst ganz dankbar war dafür. Dann sagte ich ihm meine eigentliche Meinung. Ich sagte ihm, daß ein Film, in dem die Leute in einer Tour lernen und gebessert werden, nur öde sein kann. Daß dann jeder gleich sieht, was er daraus lernen soll, und daß kein Aas Lust hat, wenn er den ganzen Tag über gelernt hat, auch abends im Kino noch zu lernen, wenn er denkt, er kann sich amüsieren. Er sagte, daß er sich das schon immer gedacht hätte, aber daß es nicht anders gegangen wäre. Ich riet ihm, dann einfach die Finger davon zu lassen und lieber diese Geschichtsfilme zu machen, bei denen jeder von vornherein weiß, daß sie nicht zum Amüsieren sind. Da sah er zu, daß er wieder Anschluß kriegte an seine Leute, die sich da von Flemming unsere hervorragende Ausbildung erklären ließen. Wir ließen ihn laufen. Ich hatte sowieso das Gefühl, daß er eine unwahrscheinliche Wut im Bauch hatte auf irgendwas an dem Tag oder überhaupt. Ich bedaure bloß, daß ich seine Adresse nicht hatte. Vielleicht war es in Berlin, dann hätte ich ihn besucht, und er hätte kaum abhauen können.

    »Wohnt hier im Haus eine Familie Schmidt?«
    »Zu wem wollen Sie da?«
    »Zu Frau Schmidt.«
    »Das bin ich. Da haben Sie Glück.«
    »Ja. Mein Name ist Wibeau. Der Vater von Edgar.«
    »Wie haben Sie mich gefunden?«
    »Das war nicht ganz einfach.«
    »Ich meine: Woher wußten Sie von mir?«
    »Durch die Tonbänder. Edgar hat Tonbänder nach Mittenberg geschickt, wie Briefe.«
    »Davon wußte ich nichts. Und da ist was von mir drauf?«
    »Wenig. Daß sie Charlotte heißen und verheiratet sind. Und daß sie schwarze Augen haben.«

    Bleib ruhig, Charlie. Ich hab nichts gesagt. Kein Wort.

    »Wieso Charlotte? Ich heiß doch nicht Charlotte!«
    »Ich weiß nicht. Warum weinen Sie? Weinen Sie doch nicht.«

    Heul doch nicht, Charlie. Laß den Quatsch. Das ist doch kein Grund zum Heulen. Ich hatte den Namen aus dem blöden Buch.

    »Entschuldigen Sie! Edgar war ein Idiot. Edgar war ein verbohrter, vernagelter Idiot. Ihm war nicht zu helfen. Entschuldigen Sie!«

    Das stimmt. Ich war ein Idiot. Mann, war ich ein Idiot. Aber hör auf zu heulen. Ich glaube, keiner kann sich vorstellen, was ich für ein Idiot war.

    »Ich war eigentlich gekommen, weil Sie vielleicht ein Bild haben, das er gemacht hat.«
    »Edgar konnte überhaupt nicht malen. Das war auch so eine Idiotie von ihm. Jeder sah das, aber er ließ sich das nicht beweisen. Und wenn man es ihm auf den Kopf zusagte, faselte er irgendwelches Zeug, aus dem keiner schlau

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