Gestrandet: Ein Sylt-Krimi (German Edition)
C arlotta Capella begann die zweite Reise ihres Lebens in strahlender Laune. Sie strahlte, als ihre Kinder sich mit sorgenvollen Gesichtern und langatmigen Ermahnungen von ihr verabschiedeten, sie strahlte, als ihre Enkel sie baten, mit vielen Geschichten zurückzukommen, und sie strahlte, während die gleichaltrigen Frauen ihres Dorfes ein letztes Mal ihre Zweifel an der Unternehmung vorbrachten. Sie strahlte sogar noch, als sie ihren Ältesten, der sie nach Rom zum Flughafen gebracht hatte, ein letztes Mal an sich drückte, und die Bodenstewardessen strahlte sie so lange an, bis eine von ihnen bereit war, sich anzuhören, wie Carlotta Capella in ihrem umbrischen Dorf aufgebrochen war, um die Familie ihrer verstorbenen Tochter zu besuchen: »Vor ein paar Monaten war ich schon einmal auf Sylt. Das war, als dort zwei grausame Morde geschahen. Terribile! Aber mein Schwiegersohn hat die Morde aufgeklärt.«
Eigentlich wollte Mamma Carlotta noch erwähnen, welche Rolle sie selbst bei der Ermittlungsarbeit gespielt hatte, aber leider kam es dazu nicht mehr, weil die Wartenden hinter ihr darauf drängten, auch endlich abgefertigt zu werden.
Als sie ihren Platz im Flugzeug einnahm, ging erneut ein Strahlen über ihr Gesicht. Denn sie stellte fest, dass ihre Sitznachbarin eine Frau in ihrem Alter war, und Carlotta Capella kannte keine Frau in den Fünfzigern, die nicht gerne plauderte oder sich durch die Plauderei einer anderen die Zeit vertreiben ließ. Jedenfalls war das in ihrem umbrischen Dorf so. Und die Erfahrung, dass diese Bereitschaft nördlich des italienischen Stiefels abnahm, hatte sie mittlerweile erfolgreich verdrängt. Was gab es Schöneres, als einer Reisebekanntschaft die eigene Familiengeschichte zu erzählen und zu erfahren, welches Glück und Leid eine andere Familie erlebt hatte?
Donata Zöllner hatte zunächst zurückhaltend auf Mamma Carlottas Freundlichkeit reagiert, taute dann aber allmählich auf. Vielleicht, weil sie erkannte, dass ihr gar nichts anderes übrig blieb. Sie würde sich anhören müssen, was Carlotta zu erzählen hatte, würde selbst wenig zu Wort kommen, und wenn das Flugzeug in Hamburg zur Landung ansetzte, viel mehr erfahren haben, als sie wissen wollte.
Genau so kam es. Carlotta Capella erzählte von ihren sieben Kindern, den Schwieger- und Enkelkindern, von ihrem armen Dino, der zwanzig Jahre lang ein Pflegefall gewesen war, bis der Himmel ein Einsehen gehabt und ihn zu sich genommen hatte, von ihrer Tochter Lucia, die in der Nähe von Niebüll einem Autounfall zum Opfer gefallen war, von den armen Halbwaisen, die sie hinterlassen hatte, und dem bewundernswerten Schwiegersohn, der die Sylter Verbrecher das Fürchten lehrte.
Als der Flug zur Hälfte vorbei war, machte Donata Zöllner einen etwas erschöpften Eindruck. Daraufhin beschloss Carlotta, die Rolle der Erzählerin mit der der Zuhörerin zu vertauschen. »Wollen Sie in Hamburg Verwandte besuchen?«
Donata Zöllner zögerte. »Ich bleibe nicht in Hamburg«, sagte sie dann. »Ich werde mit dem Zug nach Sylt weiterfahren.«
»Wir haben dasselbe Ziel? Das ist ja … portentoso! Einfach herrlich!« Dann erkundigte Carlotta sich, ob Donata ganz allein Urlaub auf Sylt machen würde.
»Ich will keinen Urlaub machen, sondern auf Sylt eine alte Bekannte besuchen«, erwiderte Donata Zöllner lächelnd. »Ich habe sie sehr lange nicht gesehen.«
Mamma Carlotta war entzückt. Eine alte Bekanntschaft aufleben zu lassen, das war ja noch interessanter, als eine Freundschaft über Jahrzehnte zu bewahren. »Wie wunderbar!« Und als sie hörte, dass Donata Zöllner ihre Freundin Magdalena im zarten Alter von sechzehn Jahren zum letzten Mal gesehen hatte, kannte ihre Begeisterung keine Grenzen. »Benissimo! Hoffentlich werden Sie sich überhaupt wiedererkennen.«
Erik Wolf trat von einem Bein aufs andere. Er fühlte sich unwohl, und das gleich aus mehreren Gründen. Ein multiples Unbehagen, das seine Mundwinkel nach unten zog und in seine Stirn zwei senkrechte Falten grub. Ich will hier weg!, dachte er. Ich will meine Ruhe!
Menschenansammlungen waren ihm verhasst, grelle Lautsprecherdurchsagen, eilige, nervöse, unbeherrschte Zeitgenossen ebenfalls. Überdimensionierte Räume konnte er nicht leiden, hochglänzende Fußböden machten ihm Angst, und beim Anblick landender und startender Flugzeuge schmerzte ihn die Sehnsucht nach seiner Insel, nach seinem kleinen Haus, nach den knarrenden Fußböden und den klappernden
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