Die Nibelungen neu erzählt
seiner Hand lag und sich gut führen ließ.
Also begann er: ein Goldstück auf diese Seite, ein Goldstück auf die andere Seite, ein zweites Goldstück auf diese Seite, ein zweites Goldstück auf die andere Seite. Und so weiter.
König Nibelung und König Schilbung herrschten ihn ungeduldig an: »Es hat doch keinen Sinn so! So dauert das doch ewig und drei Tage!«
»So lange habe ich aber keine Zeit«, sagte Siegfried. »Dann geht dem Köhler das Feuer aus.«
»Nein, nimm dein Schwert«, sagten die Könige. »Nimm dein Schwert in die Hand, und gib ihm einen Befehl. Dieses Schwert gehorcht nämlich seinem Besitzer. Gib ihm den Befehl, es soll den Schatz teilen!«
Siegfried hielt das Schwert vor sich hin und sagte: »Balmung, Schwert, hörst du? Teile diesen Schatz in zwei Hälften!«
Und ehe er es sich versah, fuhr das Schwert in seine Hand und in den Haufen Gold hinein, fegte nach rechts und kehrte nach links, und in Traumeseile waren da zwei Haufen. Das Schwert hatte den Schatz geteilt.
König Nibelung nahm ein Maßband und maß seinen Haufen, König Schilbung nahm ein Maßband und maß seinen Haufen.
»Wieviel?« fragte der eine.
»So viel«, sagte der andere.
»Das ist zuviel«, sagte der eine.
Und tatsächlich: Der Haufen von König Schilbung war etwas höher.
»Er hat uns betrogen! Er hat dir mehr gegeben als mir!« donnerte König Nibelung.
Und wieder begannen sie zu streiten.
»Aber nein!« fuhr Siegfried dazwischen. »Hört doch her! Passiert ist es ja nur deswegen, weil die Scheide meines Schwertes Balmung unter dem Haufen von König Schilbung liegt.«
Er zog die Scheide unter dem einen Goldhaufen hervor, und da waren die Haufen dann beide gleich groß.
»So, kann ich jetzt gehen?« fragte Siegfried. »Und wollt ihr mir nun endlich sagen, wo der Köhler wohnt. Ich habe nämlich eine Aufgabe zu erfüllen. Ich muß Kohle holen für die Schmiede von Mime, versteht ihr, und es ist schon viel zuviel Zeit vergangen. Man wartet auf mich. Ich möchte nicht, daß mich Mime für unzuverlässig hält.«
»Nein«, sagten die Könige. Und nun waren sie sich einig. »Wir wollen dir nicht die Zunge herausschneiden wie den Männern des Nibelungenheeres.«
»Dafür bin ich euch aber sehr dankbar«, lachte Sieg fried.
»Wir wollen dich lieber töten.«
Und sie fielen über Siegfried her. Und wer weiß, sie hätten Siegfried vielleicht tatsächlich totgeschlagen. Aber Siegfried hatte ein Schwert. Balmung. Das ließ sich einsetzen.
Und Siegfried befahl: »Balmung, töte sie!«
Zwei Streiche, und Schilbung und Nibelung, die beiden komischen Könige, waren enthauptet.
Das Heer der Nibelungen aber stand an der Felswand und rührte sich nicht.
Einmal träumte ich, ein Freund steht mir gegenüber, und ich lege meine Hände um seinen Hals und erwürge ihn.
Er sinkt vor mir nieder und ist tot. Aber im Traum war das kein Unglück, ich war nicht traurig, nicht einmal aufgeregt war ich. Und ich war unschuldig wie vor dem Mord. Meine Hände waren fremde, an mich vererbte Gewalttäter. Ich sprach mit meinem toten Freund über sie, und er gab mir Antwort, redete von unten herauf mit mir, und wir waren uns einig. Wir sahen beide zu, wie meine Hände weiter mordeten, und eine Zeitlang kommentierten wir ihre Taten, dann wandten wir uns anderen Dingen zu.
Dieser Traum fällt mir ein, wenn ich an das mordende Schwert Balmung und an das stumme, gleichgültige Heer der Nibelungen denke …
Alberich
Da hörte Siegfried hinter sich etwas rascheln. Immerzu raschelt es in solchen Märchengeschichten. Er drehte sich um, und er sah einen Zwerg. Einen Zwerg, der die Statur eines vierjährigen Kindes hatte. Aber einen Bart im Gesicht. Und der sprang auf ihn zu. Und dann war er verschwunden.
Aber Siegfried bekam ihn zu spüren. Auf den Kopf wurde er geschlagen. Es waren im einzelnen keine besonders festen Schläge. Aber die Schläge kamen nicht einzeln. In Massen hagelten sie auf ihn herab. Und auf den Schultern spürte er die Füße des Zwerges. Die trampelten auf ihm herum. Unsichtbar hüpfte dieser Zwerg auf Siegfrieds Schultern und trommelte mit zwei Knüppeln auf seinen Kopf, als wäre er der Schlagzeuger einer Heavy-Metal-Band.
Wer war dieser Zwerg?
Alberich ist sein Name. Er ist ein Naturwesen, der Elfenkönig, der sich zu dieser Zeit in dieser Gegend aufhielt. Alberich besaß eine Tarnkappe, die hatte er sich übergezogen, als er Siegfried angesprungen hatte. – Ja, wir sind noch immer mitten im Märchen.
In der
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