Die Nibelungen neu erzählt
entgegengetreten, er hätte ihn weiß Gott nicht überraschen können. Das kannte er ja: Taktiken, Strategien, unehrliche Vorgehensweisen, Umschreibungen, Etiketten, So-sagen-und-anders-Meinen, das kannte er. Dieser Siegfried aber sagte, was er sich dachte. Er hatte ein Ziel vor Augen, das steuerte er an, und er sah weder einen Grund, einen Umweg einzuschlagen, noch seinen Mitmenschen sein Ziel und den Weg, den er dorthin wählte, nämlich immer den direkten, zu verheimlichen. Das imponierte Hagen, und es amüsierte ihn auch.
Die zweite Empfindung, die in seinem Lächeln zum Ausdruck kommt, ist Verachtung. Verachtung Gunther und seinen beiden Brüdern gegenüber. Sie sind die Könige, aber sie sind auftrittsschwach, weil sie willensschwach sind, charakterschwach sind, keine Persönlichkeit haben, nichts. In ihren Gesichtern zeigt sich nichts Königliches. Nichts sind sie, nichts außer dem, was ihnen ihre Stellung gab. Aber das ist viel. Das ist alles. Dennoch: Könige, die keine Könige sind, das ist verächtlich.
Die dritte Empfindung war Bitternis. Hagen wußte, er hätte alles, was einen brillanten König ausmachte, Intelligenz, Gewandtheit, Diplomatie, Strenge, auch gutes Aussehen, Erfahrung und europaweite Anerkennung – ja, er besäße einen Königscharakter. Aber er war nicht standesgemäß. Er war der Lehnsmann, und Gunther war der Lehnsherr.
Hagen von Tronje lächelt also und weist mit der Hand auf Gunther und sagt: »Nein, ich bin nicht der König. Nicht mit mir sollt Ihr sprechen, sondern mit ihm, mit Gunther. Er ist der König.«
Gunther war erschrocken wegen Siegfrieds erster Worte, das ist verständlich.
Er sagte: »Also, ich möchte nicht von Euch getötet werden, und ich möchte auch Euch nicht im Zweikampf töten. Und ich habe auch nicht die Absicht, politisch oder sonstwie zu expandieren. Ich will Euer Reich nicht, und ich will meines nicht hergeben.«
Er stammelte herum, wußte nicht recht, wie er solcher Offenheit gegenüber die Etikette wahren sollte, blickte immer wieder zu Hagen hinüber, suchte Hilfe.
Da legte Hagen seine Hand an Siegfrieds Arm: »Ich bin Hagen von Tronje«, sagte er. »Der König und seine Brüder sind noch jung, ich bin ihr Berater. Laßt mich einige Worte mit dem König allein sprechen.«
Hagen, der Diplomat, er nimmt Gunther, Giselher und Gernot beiseite.
»Ladet ihn ein«, sagt er. »Seid besonders gastfreundlich zu ihm. Sagt ihm, Ihr seid es nicht gewohnt, solche Entscheidungen im Innenhof Eures Schlosses zu fällen. Erst wolle man den Gast gebührend ehren. Sagt ihm, Ihr werdet Eure Entscheidungen in ein paar Tagen fällen.«
Ob Hagen wisse, wer dieser Siegfried von Xanten sei, fragen ihn die Brüder.
Ja, Hagen weiß, wer Siegfried ist, und er weiß auch, daß er reich ist, er weiß, was erzählt wird, nämlich daß dieser Siegfried den sagenhaften Schatz der Nibelungen besitze. Und daß er unbesiegbar stark sei, wird auch erzählt.
»Ihn zum Verbündeten zu haben«, flüstert Hagen den Brüdern zu, »könnte für Burgund von unschätzbarem Wert sein.«
»Was sollen wir tun?« fragt Gunther.
»Wir müssen Zeit gewinnen«, sagt Hagen. »Ladet ihn ein, behandelt ihn, als wäre er der Liebste der Lieben, der Höchste der Hohen, der Beste der Guten. Zwingt ihn zu Dankbarkeit!«
»Vielleicht läßt sich Kriemhild ja doch umstimmen und nimmt ihn zum Mann«, meint Giselher.
»Wer weiß«, sagt Hagen. Aber er weiß, sie wird es nicht tun. Sie hat es sich geschworen. Er kennt ihren Starrsinn in manchen Dingen. Er kennt Kriemhild besser als ihre Brüder. Er glaubt es wenigstens.
Hagen weiß ja nicht, daß oben im Turm Kriemhild steht, immer noch am Fenster steht und herunterblickt auf diesen herrlichen jungen Mann mit den blonden Haaren und den blauen Augen.
Nun wendet sich Gunther Siegfried zu – dazu hat ihn Hagen degradiert, ihn, seinen Herrn: daß er Hagens Beschlüsse kundtut.
»Seid unser Gast, Siegfried«, sagt Gunther. »Laß uns erst über alles nachdenken. Wir sind es nicht gewohnt, solche Entscheidungen im Innenhof unseres Schlosses zu treffen. Erst wollen wir unseren Gast gebührend ehren. Wir werden unsere Entscheidungen in ein paar Tagen treffen. So lange bitten wir Euch, Euch hier zu Hause zu fühlen.«
Siegfried ist einverstanden.
Hagen faßte einen Plan. Dieser Siegfried, dachte er, wird mir eine große Hilfe sein. Ja, Siegfried war ihm sympathisch, er schätzte seine Offenheit, aber er unterschätzte seine Eigenständigkeit. Er dachte, er
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