Die niederländische Jungfrau - Roman
schlaffen Fingern knöpfte ich mir die Jacke wieder zu. Eine Runde fechten, einen Happen essen, dann würde ich mich besser fühlen. Ich nahm meine Waffentasche und ging nach unten. In der Diele wurde ich von einem heimeligen Bratenduft begrüßt, vielleicht hatte Leni mir etwas warm gehalten. Vor meinen Augen tauchten die Einzelheiten eines bizarren Traums auf, in dem eine riesige Eule ihr wattiertes Gesicht ans Fenster drückte und ein verschwommener Gegner mit zwei Waffen auftauchte, der sich schließlich als Schmetterlingspuppe erwies. Auf einmal hatte ich keinen Hunger mehr. Es gibt Träume, die den Träumenden seiner selbst entfremden, die alles in ein merkwürdiges Licht tauchen und einen Nachgeschmack haben, der sich den ganzen Tag über nicht wegspülen läßt. Ich war in einem Haus aufgewacht, in dem ich nichts zu suchen hatte, in dem Fremde wohnten, die sich nicht um mich kümmerten, in dem Eindringlinge achtlos an mir vorbeigingen. Diese traurigen Gedanken wiederholten sich in endloser Folge, wie Flutwellen einer Einsamkeit, in die ich ohne Aussicht eingeschlossen war. Der Meister hatte meine Abreise nicht mehr erwähnt. Noch zwei Wochen, so war es doch, aber die waren fast verstrichen. Natürlich konnte ich ihn bitten, mich zum Bahnhof zu bringen, aber es war gut möglich, daß er nur allzu schnell dazubereit wäre. Ich sah mich schon im Zug sitzen, in demselben Trägerkleid, in dem ich gekommen war, ohne Foto, kein bißchen klüger geworden. Ein wertloses Ende von Krieg und Frieden . Besser war es, meinen Vater zu bitten, mich von Raeren abzuholen, ohne dem Meister Bescheid zu sagen. Das gäbe einen ziemlichen Wirbel, dann müßte Heinz ins Dorf, um ein Telegramm aufzugeben. Und er war der letzte, den ich damit betrauen wollte.
Jemand hüstelte. Die Tür zum Fechtsaal war angelehnt, drinnen brannte Licht. Mir war nicht ganz geheuer. »Ist da jemand?« Keine Antwort. Ich setzte meine Maske auf, damit traute ich mich, aber prompt tauchte ein anderes Traumbild auf: die Schmetterlingspuppe, die eine goldene Medaille von der Königin bekommt. Jetzt weitergehen. »Wer ist da?«
Im Fechtsaal stand eine Frau, ebenfalls mit Maske. Wir zogen gleichzeitig unsere Waffen. Sie war von meiner Statur, machte ein paar kurze Trippelschritte auf der Stelle, wie ich es auch immer vor einer Partie tat. Ein kleiner Anlauf, zurück, drei kurze Sprünge auf Zehenspitzen, und schon stand sie da, ohne das geringste Zögern, in perfekter Haltung. Genau so. Wer war sie? Ich atmete schwer hinter meiner Maske. Das würde eine fulminante Partie, solange ich die richtigen Entscheidungen traf. Ich spürte den Griff in meiner Handfläche, drehte das Handgelenk von der vierten in die achte Position, zog den Arm zurück, ich war bereit. Wer war sie um Himmels willen, was war sie – die Geschwindigkeit, mit der sich ihr Körper entfaltete, war so unmenschlich, daß ich mich nicht gewundert hätte, wenn aus ihrem Rückgrat ein Schwanz gewachsen wäre. Sie bewegte sich nicht fließend, überschlug Momente, wie Vögel sich bewegen. Im Nu war sie bei mir.Ich taumelte zurück, schlug ihre Waffe beiseite und führte eine vergebliche Riposte aus. Sie war natürlich genauso schnell wieder weg, wie sie gekommen war. Das Geflecht ihrer Maske war dicht, das Licht des Wandleuchters zu schwach, daher konnte ich ihr Gesicht nicht erkennen. Ich spürte aber, daß sie böse war. Bevor ich wußte, wie mir geschah, hatte sie mitten auf meinen Bauch einen Treffer gesetzt.
Triumphierend hüpfte sie rückwärts an ihren Platz zurück. Fertig, los! Ohne die geringste Mühe streckte sie sich in einen Ausfall, wie nur Helene Mayer ihn machen konnte, mit einer Reichweite, die jedes Maß überstieg. Zu meiner Verblüffung stand ihre Waffenspitze bereits auf meiner Flanke. Sie griff unentwegt an, das brachte mich in Rage. Ich hatte gelernt, mir ein derart unbesonnenes Verhalten zunutze zu machen, wußte, daß ich sie sich austoben lassen und dann den richtigen Moment ergreifen mußte, so wie ein Psychiater einen Patienten mit einem Koller auffängt, aber ich wußte nicht, wer sie war, das war der springende Punkt; vielleicht war ich ja die Verrückte. Ich drehte den Oberkörper weg, so daß sie das Gleichgewicht verlor. Mit einem hohen Stoß bohrte ich ihr die Spitze meiner Waffe von der Seite her in die Taille, vielleicht waren wir einander doch ebenbürtig. Jetzt sah ich plötzlich, daß auch sie lächelte. Wir stürzten uns auf und unter die Waffe der jeweils
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