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16 Uhr 50 ab Paddington

16 Uhr 50 ab Paddington

Titel: 16 Uhr 50 ab Paddington Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Agatha Christie
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Erstes Kapitel
     
    K euchend folgte Mrs. McGillicuddy dem Gepäckträger, der ihren Koffer über den Bahnsteig trug. Mrs. McGillicuddy war klein und beleibt, der Gepäckträger war groß und machte weit ausgreifende Schritte. Mrs. McGillicuddy war zudem mit etlichen Paketen beladen, den Früchten der Weihnachtseinkäufe eines ganzen Tages. Es war daher ein ungleiches Rennen, und der Gepäckträger verschwand schon um die Ecke am Ende des Bahnsteigs, als Mrs. McGillicuddy noch die Gerade entlang hastete.
    Bahnsteig 1 war im Augenblick nicht besonders voll, denn ein Zug war gerade abgefahren, nur im Niemandsland davor herrschte ein einziges Kommen und Gehen zwischen Untergrundbahnen, Gepäckaufbewahrung, Teestuben, Auskunft, Anzeigetafeln und den beiden Verbindungsstellen mit der Außenwelt, Ankunft und Abfahrt.
    Mrs. McGillicuddy wurde mit ihren Paketen herumgestoßen, erreichte jedoch schließlich den Zugang zu Bahnsteig 3, stellte ein Paket ab und wühlte in der Handtasche nach der Fahrkarte, die es ihr erlauben würde, an dem strengen, uniformierten Wächter vor der Sperre vorbeizukommen.
    Plötzlich ertönte über ihrem Kopf eine raue, aber betont deutliche Stimme: «Der Zug nach Brackhampton, Milchester, Waverton, Carvil Junction, Roxeter und Chadmouth mit Abfahrt um 16 Uhr 50 steht abfahrbereit auf Gleis 3. Die Wagen nach Brackhampton und Milchester befinden sich im hinteren Zugteil. Reisende nach Vanequay steigen in Roxeter um.» Die Stimme verstummte mit einem Knacken und sagte gleich darauf an, der Zug aus Birmingham und Wolverhampton mit Ankunft um 16 Uhr 35 sei auf Gleis 9 eingefahren.
    Mrs. McGillicuddy fand ihre Fahrkarte und wies sie vor. Der Mann knipste sie und murmelte: «Nach rechts – hinterer Zugteil.»
    Mrs. McGillicuddy trottete den Bahnsteig entlang und fand ihren gelangweilten und ins Leere starrenden Gepäckträger vor der Tür eines Wagens dritter Klasse.
    «Bitteschön, Mylady.»
    «Ich reise erster Klasse», sagte Mrs. McGillicuddy.
    «Das hätten Sie ja auch gleich sagen können», murrte der Gepäckträger. Er musterte abschätzig ihren maskulinen Pepitamantel.
    Mrs. McGillicuddy, die das gleich gesagt hatte, widersprach nicht weiter. Sie war ziemlich außer Atem.
    Der Gepäckträger holte den Koffer wieder aus dem Abteil und marschierte zum nächsten Wagen, wo sich Mrs. McGillicuddy in einsamer Pracht niederließ. Der Zug um 16.50 wurde wenig frequentiert; Reisende erster Klasse nahmen für gewöhnlich den schnelleren Vormittagsexpress oder aber den Zug um 18.40, der einen Speisewagen mitführte. Mrs. McGillicuddy gab dem Gepäckträger sein Trinkgeld, das er enttäuscht in Empfang nahm, offenkundig der Meinung, es sei eher angemessen für Reisende der dritten als der ersten Klasse. Nach ihrer Nachtfahrt aus dem Norden herunter und einem Tag voller fieberhafter Einkäufe ließ sich Mrs. McGillicuddy eine behagliche Fahrt zwar gern etwas kosten, aber reichliche Trinkgelder pflegte sie nie zu geben.
    Mit einem Seufzer sank sie in die weichen Polster und schlug eine Zeitschrift auf. Fünf Minuten später ertönte ein Pfiff, und der Zug setzte sich in Bewegung. Die Zeitschrift entglitt Mrs. McGillicuddys Hand, ihr Kopf fiel zur Seite, und drei Minuten später war sie eingeschlafen. Nach fünfunddreißig Minuten erwachte sie neu belebt. Sie schob ihren im Schlaf verrutschten Hut zurecht, setzte sich auf und betrachtete durchs Fenster das wenige, was von der vorbeifliegenden Landschaft zu sehen war. Es war schon fast dunkel, ein trübseliger, nebliger Dezembertag – bis Weihnachten waren es nur noch fünf Tage. London war schon dunkel und trübselig gewesen, und die Landschaft draußen machte denselben Eindruck, wurde aber immer wieder von Lichterreihen aufgelockert, wenn der Zug durch Ortschaften und Bahnhöfe sauste.
    Ein Zugbegleiter riss wie ein Dschinn die Tür zum Gang auf und fragte: «Tee gefällig?» Mrs. McGillicuddy hatte bereits in einem großen Warenhaus Tee getrunken und momentan keine weiteren Bedürfnisse. Der Zugbegleiter ging den Gang hinab und wiederholte in regelmäßigen Abständen seine monotone Frage. Mrs. McGillicuddy sah mit zufriedener Miene zu ihren diversen im Gepäcknetz ruhenden Paketen hoch. Die Handtücher waren äußerst preiswert und genau das gewesen, was sich Margaret gewünscht hatte, mit dem Weltraumgewehr für Robby und dem Kaninchen für Jean war sie mehr als zufrieden, und die Abendjacke war genau das Richtige für sie selbst, warm, aber modisch.

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